Sommerserie „Geheimnisvolle Orte im Bistum“ - Teil 6

Saal mit gut versteckten Türen

Der Kapitelsaal. „Ich bin immer wieder fasziniert, wenn ich hier drin bin“, schwärmt Grote, langjähriger Domkustos und Direktor der Domkammer.

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Wir stehen im Dom in Münster, in der Nähe des Chorumgangs: Udo Grote schließt eine Holztür auf, wir sind in einem schmalen Gang mit Steintreppe, die steil nach oben führt, und schauen direkt auf eine zweite Holztür, die Grote ebenfalls öffnet. Und dann weitet sich der Blick in einen hohen Raum mit Holzdecke, barocken Gemälden und prachtvollen Wandvertäfelungen. „Ich bin immer wieder fasziniert, wenn ich hier drin bin“, schwärmt Grote, langjähriger Domkustos und Direktor der Domkammer.

Der Kapitelsaal. In der Mitte steht ein langer Holztisch, umgeben von zwölf Stühlen mit hoher Lehne, darüber hängt ein Kronleuchter. Seit dem Mittelalter kommt hier das Domkapitel zusammen. Bis vor gut 200 Jahren, bis zur Zeit Napoleons, wurde von hier aus das Fürstbistum Münster regiert. 48 Domkapitulare, alles Adelige, besprachen an diesem Ort wichtige Fragen.

Noch heute tagen an dieser Stelle die Geistlichen einmal im Monat – es sind derzeit zehn residierende (in Münster wohnende) und sechs nicht residierende Domkapitulare und damit deutlich weniger als in früheren Jahrhunderten. Wenn sich das Domkapitel trifft, spricht es über die Belange der Kathedrale, etwa über die Sanierung oder über die Gestaltung der Gottesdienste. Oder die Domherren beraten den Bischof.

 

Von Täufern verwüstet

 

Der Kapitelsaal ist auch der Ort, in dem das Domkapitel seit 1544 fast alle Bischöfe von Münster gewählt hat. Kein Straßenlärm dringt herein, nur gelegentlich ist Glockengeläut zu hören. Still und abgeschieden ist es. Und doch mitten im Stadtzentrum.

Wo genau der Versammlungsraum an das Kirchengebäude grenzt, können Besucher im Paradies, also der Vorhalle des Doms, erkennen. An einer Seitenwand hängt der Grundriss des Gebäudekomplexes, in Klammern steht beim Kapitelsaal der Zusatz „nicht zugänglich“.

Grote stuft den Saal als einen der bedeutendsten der Renaissance ein und lobt die „fantastischen Schnitzereien“. Deren Qualität hält der Domkustos sogar für besser als die im Friedenssaal von Münster.

Um die heutige Ausstattung haben sich der Bildschnitzer Johann Kuper und seine Gesellen Lambert und Jost verdient gemacht, sie arbeiteten daran vermutlich von 1544 bis 1558. Wenige Jahre zuvor, 1535, hatte Fürstbischof Franz von Waldeck die Stadt von den Täufern zurückerobert. Damit beendete er die Herrschaft dieser radikal-reformatorischen Bewegung.

Es sind wilde, chaotische Jahre für Münster: Fanatische Anhänger verwüsten den Dom, die Sakristei und den Kapitelsaal. Als Schüler erlebt Hermann von Kerssenbrock (um 1520-1585) die unruhige Täuferzeit mit. Später verfasst er als Augenzeuge darüber einen Bericht.

„Die Domkirche beraubten sie aller Zierrathe“, schreibt Kerssenbrock empört über die Zerstörungen im Jahr 1534. „Vornämlich liessen sie ihre Wuth an den Taufstein und die Reliquienbehälter aus“, notiert er und weiter: „Hierauf giengen sie in die Capitelstube, zernichteten die Fenster und Stühle, die mit dem künstlich verfertigten Wapen der Domherren gezieret waren.“

In den Nachfolgejahren, als sich die Lage wieder beruhigte, begann im Dom der Wiederaufbau: Neue Skulpturen wurden errichtet, und von 1540 bis 1542 wurde die astronomische Uhr angebracht, Ersatz für ein Vorgängermodell, das die Täufer ebenfalls zerstört hatten. 1544 (übrigens zwei Jahre vor Martin Luthers Tod) begannen Kuper und seine Gesellen mit den Schnitzarbeiten im Kapitelsaal.

Sie nahmen dunkles Eichenholz für die reich verzierten Sitze an den Wänden und schufen filigrane, millimetergenau verarbeitete Wappen der Domherren. Wirklich eine Meisterleistung. Denn jeder Sitz ist aus nur einem einzigen Stück geschnitzt, und wenn die Kunsthandwerker einen Fehler machten, mussten sie ihre Arbeit von vorn beginnen.

 

„Bomben-Bernd“

 

Geschnitzt haben sie die Familienwappen der adeligen Geistlichen, wobei die unteren mütterlichen Wappen flacher verarbeitet sind als die väterlichen darüber, weil die hohen Herren an den unteren ihren Rücken anlehnten. Zu bestaunen sind auch Köpfe von Päpsten, Kardinälen und Königen, zudem Helme – und Akanthusranken, ein Motiv, das schon die Antike kannte und das korinthische Säulen verzierte.

Wer in den Versammlungsraum eintritt, dem fällt zunächst nicht auf, dass er an zwei besonderen Schnitzfeldern vorbeigeht: Links unten neben der Tür ist ein angeketteter Teufel mit sechs Zehen zu sehen, der in einen Apfel beißt. Gegenüber, ganz plastisch, ragt aus dem Holz der Kopf eines kleinen Hundes heraus. Beide sollen das Böse aus dem Kapitelsaal fernhalten.

In der linken Ecke an der Nordwand ist symbolisch ein Platz frei gehalten: für den Fürstbischof, der nicht dem Domkapitel angehörte. Daneben lagerten in einem Wandschrank deren Archivalien.

Für die Sitzordnung galt eine feste Reihenfolge, orientiert an der Rangordnung der geistlichen Herren. Und der Name des letzten verstorbenen Domkapitulars ist an der Südwand in auffälliger Größe auf einer eigenen Tafel notiert: Weihbischof Alfons Demming, verstorben am 31. Oktober 2012.

 

Perfekt getarnt

 

Tageslicht dringt allein von der Ostwand herein. In farbigen Glasfenstern leuchtet das Wappen von Christoph Bernhard von Galen (1606-1678), einem der bedeutendsten Fürstbischöfe des Bistums. Er war ein christlicher Reformer, ein tieffrommer Mann und ein selbstbewusster barocker Landesherr. Kriegerisch gesinnt war der Fürstbischof allerdings auch, man nannte ihn den „Kanonenbischof“. Mehrfach belagerte Christoph Bernhard von Galen die nach Unabhängigkeit strebende Stadt Münster, und er kämpfte gegen die Niederländer. Wegen seines militärischen Eifers verpassten sie dem Feldherrn den Spitznamen „Bommen Berend“ („Bomben Bernd“).

Domkustos Udo Grote schwärmt von der herausragenden Qualität der Holzschnitzereien aus dem 16. Jahrhundert.
Domkustos Udo Grote schwärmt von der herausragenden Qualität der Holzschnitzereien aus dem 16. Jahrhundert.

Neben Meisterwerken der Holzschnitzkunst ist auch Schmiedekunst zu bewundern, und zwar an einer versteckten Fluchttür in der Südostecke. Dass es hier überhaupt eine Tür gibt, wissen aber nur Eingeweihte wie Domkustos Grote. Zu sehen ist der Eingang nicht.

Grote fasst an das Scharnier, und das Schloss und demonstriert, wie es sich öffnen ließ. Beides gibt es jeweils gleich zweimal, auf beiden Seiten der Tür. Öffnet man eine Seite, schnappen die Schlösser ein. Dann lässt sich die Tür von beiden Seiten betätigen. „Bei Tumult konnte man den Raum verlassen“, sagt Grote. Früher gelangten die fliehenden Domherren in einen Gang, heute trifft der Besucher hinter der Tür nur auf eine Wand.

Schließlich zeigt der Domkustos, dass der Kapitelsaal noch über eine zweite Geheimtür verfügte, die ebenfalls gut getarnt ist inmitten der Holzschnitzereien an der Nordwand. Grote klappt die Sitze hoch und schließt auf. Zuvor ließ sich nicht einmal erahnen, dass eine Wandöffnung zur Sakristei führt.

Könnte der Kapitelsaal erzählen, würde er von einer wechselvollen Geschichte berichten. Doch beinahe wären seine reich verzierten Wände vernichtet worden. Wären die Renaissance-Schnitzereien nicht im Zweiten Weltkrieg ausgelagert worden, wären diese Kunstwerke vermutlich zerstört worden – und niemand könnte sie bewundern.

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