Themenwoche „Menschen, die uns Hoffnung schenken“ (5)

Schritt für Schritt: Wie sich Jeremy Hein zurück ins Leben kämpfte

Anzeige

Als Jeremy Hein vor vier Jahren bei einem Autounfall schwer verletzt wurde, war seine Zukunft ungewiss. Der heute Zwölfjährige hat sich auch mithilfe seiner Ponys wieder ins Leben zurückgekämpft.

Die Zäsur kam an einem Wintertag im November 2019. Bis zu diesem Moment war Jeremy der quirlige, lebhafte und sportbegeisterte Junge gewesen, wie es ein Neunjähriger halt so sein kann: Spaziergängen mit den Hunden auf den Feldwegen rund um das Familienhaus am Ortsrand von Hagen, Trampolinspringen im Garten mit Blick auf die beginnenden Hügel des Sauerlands und vor allem das Reiten auf seinen Ponys – das war sein Ding.

Es war auch der Pferdesport, zu dem er an diesem Nachmittag mit seiner Mutter aufbrach. Er setzte sich quer auf den Beifahrersitz, um den Schnee von seinen Stiefeln abzuklopfen. Dann raste ein Auto in die offenstehende Tür. Seine Beine wurden brachial zusammengequetscht, seine Unterschenkelknochen zertrümmert, sämtliche Bänder und Sehnen rissen.

Schmerz, Ohnmacht, Angst

In unserer Themenwoche „Menschen, die uns Hoffnung schenken“ stellen wir Leute vor, die durch ihr Handeln Vorbild für andere sein können. Dabei geht es um freiwillig Engagierte, Hauptamtliche oder Menschen, die sich immer wieder aufrichten. In Folge 5 stellen wir Jeremy Hein vor.

Schnitt: Jäh und brutal war sein bisheriges Leben zu Ende. Schmerz, Ohnmacht und Angst verdrängten von einer Sekunde auf die andere die Freude, die Begeisterung und die Perspektiven eines jungen Lebens. „Das wurde uns natürlich erst nach und nach bewusst“, sagt seine Mutter Nina Hein. „Am Anfang stand nur der Schock.“ Erst mit der Zeit realisierte die Familie, wie ungewiss die Zukunft Jeremys war. „Eine Amputation stand zur Diskussion, viele Ärzte in unterschiedlichen Krankenhäusern hatten viele unterschiedliche Ratschläge.“ Diagnosen folgten auf Diagnosen, Operationen auf Operationen.

Einige Wochen später kehrte Jeremy nach Hause zurück – im Rollstuhl, mit Titan-Stäben in den Unterschenkeln, weit entfernt von der Möglichkeit, irgendwann selbst wieder laufen zu können. „Die Ärzte haben mir zwar gesagt, dass ich als Kind noch gutes Heilfleisch besitze“, sagt Jeremy. „Aber es ging lange nicht voran.“ Die Röntgenbilder zeigten über Wochen kein zusammenwachsendes Gewebe in den Knochen. „Das hat mir schon Angst gemacht.“

Unterstützung für Jeremy riesig

Mut machender Moment: Jeremy wird nach seinem Autounfall von seinem Pony Nemo getröstet. | Foto: privat
Mut machender Moment: Jeremy wird nach seinem Autounfall von seinem Pony Nemo getröstet. | Foto: privat

Jeremys Platz war jetzt ein Pflegebett im ehemaligen Arbeitszimmer der Mutter im Erdgeschoss. Die Stiege rauf in sein großes Kinderzimmer unterm Dach war für ihn nicht zu meistern. Die vielen Medaillen dort, die Pferdeposter und die Fotos von seinen Reitturnieren blieben unerreichbar für ihn. „Das tat mir am allermeisten weh“, sagt Jeremy. Als ambitionierter Springreiter fehlte ihm das Training. Viel schmerzlicher aber war der fehlende Kontakt zu seinen Ponys. Das Streicheln, das Pflegen, einfach die gemeinsame Zeit.

„Ich glaube, dass aus dieser Sehnsucht der besondere Wille von Jeremy wuchs, wieder komplett fit zu werden“, sagt seine Mutter. Sie hatte ihren Job als Pflegemutter gekündigt, um sich ganztägig um ihren Sohn kümmern zu können. Auch der Vater, seine Schwester und sein Bruder standen ihm zur Seite. Seine Freunde, seine Mitschüler und seine Reitkameraden – alle legten sich ins Zeug. „Von überall kam Mutmachendes.“

„Du schaffst das!“

Einige Dinge ragten heraus. Etwa das Foto vom riesigen Plakat, das die 70 Mitglieder seines Reitvereins in die Höhe hielten. „Du schaffst das!“, stand darauf. Oder die Mitschüler, die sich später darum rissen, wer ihn bei seinen seltenen Besuchen in der Schule aus dem Rollstuhl heben und die Treppe hinauftragen durfte. Vor allem aber sein Großvater, der – selbst schwerkrank – oft zu ihm kam und ihm immer wieder ein Wort ins Ohr flüsterte: „Selbstheilung.“ Jeremy sollte den Glauben an einen guten Ausgang nicht verlieren.

Trotz allem Optimismus und aller Energie, die Jeremy dabei fand, es blieb ein Weg voller Rückschläge. Lange, viel zu lange, blieben die regelmäßigen Röntgenbilder enttäuschend, keine Fortschritte waren erkennbar. Bis plötzlich dieser kleine Schatten auftauchte, der anzeigte, dass im Knochen neues Gewebe wuchs. Der Schatten wurde größer, die Hoffnung wuchs mit ihm.

Zurück auf dem Pferderücken

Wie ein Booster legte sich die Möglichkeit auf die Genesung, dass Jeremy wieder zu seinen Pferden konnte. Zunächst nur, um mit seinem Rollstuhl neben ihnen zu stehen, mit ihnen zu sprechen und sie zu streicheln. „Nemo muss geahnt haben, wie es mir geht“, sagt der junge Reiter über eines seiner Ponys. „Er hat meine Beine immer ganz sanft mit der Nase angestupst.“

Nach mehr als einem Jahr dann das größte Glücksgefühl: Jeremy saß wieder auf dem Rücken eines Ponys. „Völlig schief, ohne die Unterschenkel nutzen zu können, kaum in der Lage, aktiv zu reiten“, beschreibt er seinen ersten Ausritt. „Aber es hat mich getragen.“ Und wie! Vorsichtig, achtsam und ruhig ging das Pony. Obendrauf fühlte ein Junge endlich wieder „das größte Glück der Erde“.

Internet-Gemeinde macht Mut

Seine Situation rührte nicht nur seine Angehörigen immer wieder zu Tränen. Eine wachsende Internet-Gemeinde, gerade aus der Pferdesportszene, war beeindruckt und machte ihm Mut. „Er bekam so viel Post und kleine Geschenke, dass wir ein Postfach anmieten mussten.“ Süßigkeiten wurden geschickt, persönliche Briefe, kleine Glücksbringer. An der Wand im Wohnzimmer hängen heute auch Tuschezeichnungen, die jemand von Internetfotos seiner Ponys machte. „Wer das gemalt hat, wissen wir bis heute nicht.“

Das alles hört sich wie ein plötzlich rasanter Weg zurück ins normale Leben an. War es aber nicht. Es blieb weiter ein Auf und Ab, ein Kämpfen mit Grenzen, ein Kampf gegen Stagnation. Physiotherapie gehört heute immer noch zu seinem Alltag. Das Laufband im Wohnzimmer steht für einen genauen Trainingsplan. Die Titanstangen stecken weiter in seinen Unterschenkeln.

Kein Selbstläufer

Auch der Familie haben die vergangenen Jahre einiges abverlangt. „Ich habe lange einfach nur funktioniert und bin irgendwann in ein tiefes Loch gefallen“, sagt die Mutter. Für die Freude über jeden neuen Schritt von Jeremy mussten alle hart arbeiten. Es lief nichts von allein. Es musste immer ins Laufen gebracht werden.

Und heute? „Wenn ich nicht so einen Schnupfen hätte, wäre alles in Ordnung“, sagt Jeremy grinsend, als er nach dem Spaziergang mit den Hunden zurück in die warme Küche kommt. Zwölf Jahre ist er jetzt alt, der Unfall fast vier Jahre her. Seine Instagram-Gemeinde ist mittlerweile auf fast 100.000 Fans angewachsen. Das liegt auch an dem sportlichen Erfolg, den er wieder hat. Westfälischer Meister in seiner Altersklasse ist er neulich geworden. Er ist im Auswahlkader der Westfalen-Junioren. Zwei bis drei Stunden ist er täglich bei seinen Pferden. Ohne Rollstuhl und ohne Gehilfen.

Er joggt wieder, Trampolinspringen hat ihm der Arzt aber noch verboten. Etwas wird immer anders bleiben als vor dem Unfall, sagt Jeremy. Manchmal schmerzen die Beine, ein Taubheitsgefühl gibt es noch. Nicht aber den Schmerz, die Ohnmacht und die Ängste aus jenem Tag im Winter 2019.

Anzeige