Gast-Kommentar von Robert Boecker zu Missbrauch und Kirchenaustritten

Seit Jugendzeit der Kirche verbunden - heute verzweifle ich an ihr

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Es ist nicht nur die Wut, die viele engagierte Christen derzeit bewegt, wenn sie an die Kirche denken. Viele erleben tiefe Enttäuschung und Traurigkeit darüber, was in ihnen durch Missbrauch und Austritte zerbricht. Robert Boecker ist einer von ihnen. In seinem Gast-Kommentar wird der Chefredakteur der Kölner Kirchenzeitung sehr persönlich.

Ich war noch nicht zur Erstkommunion gegangen, als ich Messdiener wurde. Es war der Beginn einer intensiven katholischen Sozialisation: Obermessdiener, Pfarrjugendleiter, Pfarrgemeinderatsvorsitzender, Kirchenvorstandsmitglied waren weitere Stationen auf diesem Weg. Und irgendwie gehört meine Arbeit als Journalist und Chefredakteur einer Kirchenzeitung auch in diese Reihe.

Im Laufe der Jahre habe ich sehr viele Priester kennen- und auch schätzen gelernt. Mit einem Priester hat mich eine jahrzehntelange Freundschaft verbunden. Er hat meinen Glauben geprägt. Er hat auch meine Kinder getauft. Gemeinsam haben wir tolle Aktionen realisiert.

Der Priesterfreund ein Missbrauchstäter

Der Autor:
Robert Boecker ist Chefredakteur der Kölner Kirchenzeitung.

Und dann erfahre ich von der anderen, dunklen Seite dieses priesterlichen Freundes. Ich lese in mehreren Gutachten zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs durch Geistliche auch von den Taten meines Freundes. Die ihn betreffenden Passagen sind umfangreich – und erschütternd. In mir zerbricht etwas.

Vor wenigen Tagen treffe ich einen alten Freund. Die Arbeit in der Pfarrgemeinde hat uns seit der frühen Jugend verbunden. Wir kommen ins Gespräch. Und irgendwann sagt mir mein Freund in einem Nebensatz, er sei aus der Kirche ausgetreten. Er sei es satt gewesen. Die ganze Missbrauchsthematik und das Versagen der Institution bei der Aufarbeitung der Skandale hätten ihm den Glauben an die Kirche genommen. Mir stockt der Atem.

„Jetzt auch er“, schießt es mir durch den Kopf. Was soll ich ihm sagen? Wie kann ich ihn überzeugen, seinen Entschluss vielleicht noch einmal zu überdenken? Mir fehlen in diesem Moment nicht nur die Worte, sondern auch die Argumente.

Lügen, Vertuschung, Missbrauch - es reicht

Kürzlich besuchte ich mit meiner Frau die Familie einer lieben Verwandten. Die Eltern durch und durch katholisch. Die beiden inzwischen erwachsenen Kinder – Anfang, Mitte 20 – waren in der Kirche beheimatet, sind in einer katholischen Jugendorganisation sehr engagiert gewesen. Beim Nachmittagskaffee kommen wir auch auf die Situation der Kirche zu sprechen. Der Älteste denke darüber nach, aus der Kirche auszutreten, sagt meine Kusine. Er könne es einfach nicht mehr ertragen, die Lügen, die Vertuschung, den Missbrauch, den Verlust an Glaubwürdigkeit. Wieder ein Moment meiner Sprachlosigkeit.

Heute Morgen hole ich meine Tageszeitung aus dem Briefkasten. Auf der Titelseite ein Bericht über einen neuen Missbrauchsfall durch einen Pries­ter. „Ist das der nächste Sargnagel?“ frage ich mich spontan. Es ist zum Verzweifeln.

In unseren Gast-Kommentaren schildern die Autor:innen ihre persönliche Meinung zu einem selbst gewählten Thema. Sie sind Teil der Kultur von Meinungsvielfalt in unserem Medium und ein Beitrag zu einer Kirche, deren Anliegen es ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen.

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