Themenwoche „Inflationskrise – wie Gemeinden helfen“ (4) - Warendorf

Seitenwechsel in der SKM-Wärmestube: Vom Gast zum Gastgeber

Seitenwechsel in der SkF-Wärmestube Warendorf: Vom Gast zum Gastgeber | Video: Michael Bönte

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Die Inflation hat ein Rekordniveau erreicht, Energie- und Lebensmittelpreise sind explodiert. An wen können sich Hilfesuchende wenden? In unserer Themenwoche „Inflationskrise – wie Gemeinden helfen“ stellen wir verschiedene kirchliche Angebote vor. Im vierten Teil berichten wir aus der SKM-Wärmestube in Warendorf.

Die Tür ist die gleiche wie früher. Er öffnet sie nur anders – als Gastgeber, nicht als Gast. Die Wärmestube des Sozialdienstes katholischer Männer (SKM) in Warendorf ist seit mehr als zehn Jahren sein Arbeitsplatz. Er betrat die Räume aber schon viel früher. Vor 20 Jahren stand Andreas Engbrecht zufällig davor. „Hier kriegst du ein warmes Essen“, sagten die Obdachlosen, die dort ein und aus gingen. Auch er ging hinein. Es war der Anfang von dem Weg aus seiner Lebenskrise.

Der 66-Jährige lässt die winterliche Kälte hinter sich, als er das Haus an der Durchgangsstraße in Warendorf betritt. An der Tür zur Küche passiert er das Schild „Nur für Angestellte“. Dahinter sind Haken, an denen er seine Jacke und Schiebermütze aufhängen kann. Sein Arbeitstag beginnt mit dem Kaffee kochen für das Frühstück. In den kommenden Stunden werden sich die Räume mit Menschen füllen, die durch Suchterkrankungen, Schicksalsschläge oder Geldprobleme ins soziale Abseits geraten sind. Sie kommen zum Aufwärmen, um ihre Kleidung in der Waschmaschine zu reinigen und für ein warmes Essen.

Stolz auf den eigenen Weg

Genau in dieser Lage war er selbst einmal. Als er in jungen Jahren aus Russland nach Deutschland kam, waren es Baustellen, auf denen er seinen Lebensunterhalt verdienen konnte. „Ich habe gemauert, verputzt und viele kleine Dinge erledigt.“ Ungelernt, fleißig und mit viel Kontakt zu den anderen Bauarbeiten. „Es war gesellig, wir haben immer viel getrunken.“ Zu viel, das merkte er erst später. Er wurde alkoholsüchtig, verlor seine Arbeit, musste aus seiner Wohnung und zog in eine Sammelunterkunft.

Das ist die kurze Zusammenfassung seines Fallens. Dahinter steckt ein persönlicher Abstieg, weg von Eigenständigkeit, von Kontrolle, von Unabhängigkeit. „Irgendwann war ich ganz unten, war voll und ganz auf Unterstützung angewiesen.“ Es schwingt keine Bitterkeit oder Scham mit, wenn Engbrecht mit seinem russischen Akzent davon erzählt. Es ist etwas anderes herauszuhören – Stolz. Das hat seinen Grund: Zu dem Zeitpunkt, an dem alles in Scherben lag, fand er die Kraft, daran etwas zu ändern. Und dabei spielte die Wärmestube in Warendorf eine entscheidende Rolle.

Impuls aus der Warendorfer Wärmestube

„Es gab damals viele Menschen, die mir halfen“, sagt er. „Ärzte unterstützten mich beim Entzug, Sozialarbeiter halfen mir durch die Bürokratie, am Sonntag betete ich mit der Gemeinde im Gottesdienst.“ Die entscheidenden Impulse für seinen Weg aus der Not aber bekam er in der Wärmestube. Der heiße Kaffee und das warme Mittagessen waren wichtig. Engbrecht tippt mit dem Finger auf den großen Esstisch im Speiseraum: „Die Gespräche mit den Helfern hier waren viel wichtiger.“

Er konnte Sorgen loswerden, konnte von Rückschlägen und Erfolgen berichten, bekam Tipps für seinen weiteren Weg, wurde an Ansprechpartner anderer sozialer Einrichtungen vermittelt. „Genau das brauchte ich – denn alles andere war damals sehr hart.“ Die Schritte raus aus seiner Situation verliefen alles andere als gradlinig. Da brauchte es diese Konstante: „Menschen, die nicht nur für mich kochten oder meine Kleidung wuschen, sondern auch zuhörten.“

Er wollte Gastgeber werden

Wie wohl er sich an diesem Platz fühlte, wurde deutlich, als es ihm langsam immer besser ging. Es wäre die Zeit gewesen, sein Leben ganz neu auszurichten, vielleicht wegzuziehen, die alten Probleme auch räumlich weit hinter sich zu lassen. Er ging aber nicht, er wollte an dem Ort und bei den Menschen bleiben, die ihm so intensiv den Rücken gestärkt hatten. Und: Er wollte nicht mehr nur als Gast kommen. Er wollte selbst helfen.

Die Worte sind abgegriffen, die Engbrecht dafür gebraucht. Aus seinem Mund aber klingen sie ehrlich, demütig und rührend. „Man darf nicht immer nur nehmen – wenn es einem gut geht, muss man auch geben.“ Er nickt und lächelt freundlich, wenn er das sagt. Eine logische Formel für ihn, eine ganz normale Schlussfolgerung. Die ihn nach und nach in die Position des Helfers in der Wärmestube brachte.

Heimspiel für Engbrecht

Am Anfang waren es kleine Fahrten mit dem Fahrrad, die er übernahm. Lebensmittel und Kleidung mussten besorgt werden. Dann half er irgendwann auch beim Kochen und Wäsche waschen. Aus der ehrenamtlichen Hilfe wurde ein Ein-Euro-Job, dann wurde er stundenweise angestellt. Seien Aufgaben wuchsen. Er wurde Hausmeister, Koch, Versorgungsfahrer. Auch in die Planungen wurde er immer mehr eingespannt. Heute ist er in Teilzeit festangestellt.

Seine entscheidende Aufgabe ist eine andere, sagt Engbrecht. „Wie es bei mir war: das Gespräch.“ An der Durchreiche aus der Küche, am Esstisch oder vor dem Wäschekorb. Dann ist er quasi Spezialist, dann geht es um seine Themen, dann kann er all seine Erfahrungen einbringen, die ihn selbst in die Wärmestube brachten. „Wenn die Menschen mit ihren Sorgen zu mir kommen, dann ist das kein Neuland für mich.“ Es ist ein Heimspiel.

Er kennt die Gefühle hinter den Sätzen

„Ich komme von meiner Sucht nicht runter.“ „Mein Geld reicht hinten und vorn nicht mehr.“ „Ich habe nichts mehr zum Anziehen.“ Engbrecht versteht die Tragweite solcher Sätze, weil er die Gefühle dahinter kennt. „Ich weiß, was es für einen Menschen bedeutet, wenn er so etwas sagen muss.“ Und die Menschen in der Wärmestube wissen, dass er das weiß. Sie kennen seinen Hintergrund, haben Vertrauen, finden echtes Mitgefühl. „Nicht selten suchen sie den direkten Kontakt zu mir, wollen unbedingt mit mir sprechen.“

Natürlich kennt er auch die Tricks. Er hat sie ja lange selbst genutzt. Kurz rauszugehen, um heimlich einen Schnaps zu trinken – das fällt ihm sofort auf. „Überleg dir gut, ob das jetzt nötig ist“, gibt er dem Gast dann mit auf den Weg. Andere ermahnt er, den regelmäßigen Arzt-Termin nicht zu schwänzen, weil sie den unangenehmen, aber wichtigen Fragen zur Gesundheit aus dem Weg gehen wollen. „Das alles sind Momente, die für mich nachvollziehbar sind, weil sie die Menschen hier in ihrer Situation belasten, nerven und überfordern.“ Engbrecht wird nicht müde werden, ihnen zu zeigen, dass genau diese Hürden genommen werden müssen, damit es einem besser gehen kann. Er selbst ist das beste Beispiel dafür.

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