Regens Hartmut Niehues will dem Thema die Dramatik nehmen

Sexualität ist Thema in der Priesterausbildung

Trotz Zölibat: Das Thema Sexualität ist fester Bestandteil der Priesterausbildung im Bischöflichen Priesterseminar in Münster. Eine Tabuisierung würde die Auseinandersetzung nur dramatisieren, sagt Regens Hartmut Niehues im Interview mit Kirche+Leben.

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Trotz Zölibat: Das Thema Sexualität ist fester Bestandteil der Priesterausbildung im Bischöflichen Priesterseminar in Münster. Eine Tabuisierung würde die Auseinandersetzung nur dramatisieren, sagt Regens Hartmut Niehues im Interview mit Kirche+Leben.

Seit wann dürfen Sie als Regens die Worte Priesterseminar und Sexualität in einem Satz verwenden?

Als ich Anfang der 1990er Jahre als Student im Borromaeum war, kam das Thema Sexualität durchaus vor. Wir hatten zum Beispiel unsere „Zöliwoche“, in der wir uns mit Fragen zur Sexualität auseinander gesetzt haben. Vielleicht war es verkrampfter als heute, war noch mit mehr Tabus besetzt. Heute gehen wir da, glaube ich, etwas freier mit um.

Warum hat sich der Umgang entkrampft?

Das muss man gesamtgesellschaftlich sehen. Wenn sich vor 30 Jahren ein Priester als homosexuell outete und aus seinem Beruf ausschied, war das ein Tabubruch. Heute sind unterschiedliche sexuelle Neigungen und Brüche in Biographien gesellschaftlich weitgehend akzeptiert. Aber die Zeiten waren ja mal anders. Als Anfang der 90er bei der RTL-Show „Tutti Frutti“ das erste Mal halbnackte Frauen im Fernsehen zu sehen waren, war das noch ein Skandal. Heute würde darüber vermutlich kein Mensch mehr reden. Was nicht heißt, dass das heute alles besser ist.

Ist das zölibatäre Leben des Priesters damit zu einem besonderen Reizthema geworden?

Die Unterschiede, wie in der Gesellschaft mit Sexualität umgegangen wird, und die Auseinandersetzungen mit dem Zölibat der Priester, sind sicher größer geworden. Das schafft Unverständnis. Für viele ist es kaum verständlich, wie ein Mann auf eine exklusive Beziehung mit einer Frau und damit auf körperlich-sexuelle Betätigung freiwillig verzichten kann.

Warum muss er es denn noch?

Weil der Zölibat und die anderen evangelischen Räte Armut und Gehorsam eine große persönliche Freiheit in der Beziehung zu den Menschen bringen können. Als Priester bin ich nicht „auf dem Markt“. Also bin ich auch kein Konkurrent. Das funktioniert nicht immer, da ja auch „das Unerreichbare“ eine große Attraktivität haben kann. Aber insgesamt gilt doch, dass das Offenheit und Leichtigkeit ins Miteinander bringt.

Kann also nur ein Mann Priester werden, der ohne Sexualität durchs Leben kommt?

Das ist Quatsch. Wir sehen die Berufung als Priester und die Berufung zum Zölibat getrennt. Wenn ich die eine Berufung habe, muss ich nicht auch automatisch die andere Berufung haben. Ich kann das dann akzeptieren und mir einen sexuellen Verzicht auferlegen. Ich zweifle aber daran, dass das weit trägt. Auf der anderen Seite kann ich in dem Verzicht auch eine Berufung entdecken, die mich bereichert.

Kann also ein „echter“ Mann gar kein Priester werden?

Gegenfrage: Wann ist ein Mann ein echter Mann? Es kann ja nicht darum gehen, welche biologischen Voraussetzungen ich habe, sondern wie ich damit umgehe. Die eigene Sexualität zu verleugnen, hilft nicht weiter. Aber ich kann in der Sexualität eine schöpferische Kraft sehen, die mir von Gott geschenkt ist. Und dann muss ich lernen, was ich mit dieser Kraft mache. Ich habe als Mensch ja auch einen Aggressionstrieb und muss lernen damit umzugehen, um nicht sofort jemanden zu schlagen.

Wohin mit der schöpferischen Kraft der Sexualität?

Schöpferisch tätig werden können wir Menschen auf vielfältige Weise. Natürlich geht das auch in meinem Dienst als Priester: Was kann ich mit dieser grundsätzlich positiven Energie anfangen, um meinen Seelsorge-Alltag zu bereichern? Entscheidend ist, dass ich immer im Blick habe, dass genital gelebte Sexualität nicht das einzige ist, was ich als Mensch an schöpferischer Möglichkeit habe.

Kann das bei den vielen Kontakten in der Seelsorge zu anderen Menschen gelingen?

Da kommt etwas sehr wichtiges ins Spiel. Es geht in der Sexualität immer um Beziehungen. Also muss sich der Priester die Frage stellen: Wo kann ich in tragfähigen Beziehungen leben? Ich brauche Freunde, mit denen ich einen hohen Grad an Intimität teilen kann. Intimität im Sinne von: Da kann ich mich einem Menschen öffnen, ihm Einblicke in mein Inneres geben. Solche Beziehungen fehlen leider manchmal – aber nicht nur Priestern, sondern vielen anderen Menschen auch.

Aus all den Voraussetzungen für das priesterliche Leben entwickelt sich schnell ein Idealbild, das kaum zu erreichen ist. Oder?

Es geht nicht um ein überhöhtes Ideal. Sondern es geht um die Frage: Wie gehe ich mit dem Scheitern um? Ich bin froh, an einen Gott glauben zu dürfen, der mich auch im Scheitern nicht fallen lässt, der verzeiht und mir einen neuen Anfang ermöglicht. Die Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit auszuhalten, gilt ja nicht nur im Bereich der Sexualität. Und diese Spannung erleben Priester genauso wie Menschen, die in anderen Lebensentwürfen unterwegs sind. Denken Sie etwa an Internetpornographie, die ja gesellschaftlich weit verbreitet ist. Angesichts der anderen Wirklichkeit aber das Ideal aufzugeben, ist eben auch keine Alternative.

Hartmut Niehues ist Regens des münsterschen Priesterseminars. | Foto: Michael BönteHartmut Niehues ist Regens des münsterschen Priesterseminars. | Foto: Michael Bönte

Wie soll sich ein Priester denn in dieser Spannung verhalten?

Er bekommt in der Ausbildung das Rüstzeug für den Umgang mit solchen Situationen. Wir machen die Frage des Umgangs mit der Sexualität immer wieder zum Thema. In der geistlichen Begleitung gibt es für die Seminaristen einen vertraulichen Raum, wo sie mit den Spiritualen über ihre Erfahrungen und Fragen ins Gespräch kommen können. Dazu gehört auch die Frage, was ist, wenn ich hinter dem Ideal zurückbleibe. Es hilft nicht, das zu dramatisieren. In diesen Momenten helfen auch keine Checklisten. Etwa wenn einer sagen würde: Selbstbefriedigung ist noch o.k., Geschlechtsverkehr nicht mehr. Es braucht die persönliche Auseinandersetzung, am besten im Gespräch mit dem eigenen geistlichen Begleiter. Natürlich gibt es gleichzeitig rote Linien, die nicht überschritten werden dürfen.

Auf welcher Seite der roten Linie liegt die Homosexualität?

In der Rahmenordnung für die Priesterbildung auf Weltebene ist davon die Rede, dass nicht Priester werden kann, wer Homosexualität praktiziert, tiefsitzende homosexuelle Tendenzen hat oder eine „homosexuelle Kultur“ unterstützt. Der Begriff der „tiefsitzenden homosexuellen Tendenzen“ ist schwierig. Was bedeutet „tiefsitzend“? Offenbar braucht es hier eine Interpretation. Vielleicht kann man das in folgender Weise denken: Eine homosexuelle Orientierung darf nicht das überlagernde Motiv sein, Priester zu werden. Und die entscheidende Frage ist dann: Kann sich einer, der bei sich auch homosexuelle Empfindungen wahrnimmt, in den Vorgaben bewegen, die es für Priester gibt, also zölibatär leben? Oder sind seine sexuellen Empfindungen so bestimmend, dass die anderen Aspekte seiner Persönlichkeit dahinter zurücktreten? Das kann man allerdings für heterosexuell empfindende Priester ähnlich sehen.

Gibt es viele homosexuelle Kandidaten im Seminar?

Das wird ja gerne behauptet. Konkrete Zahlen habe ich nicht. Im Gespräch vertrauen sich mir einzelne Seminaristen durchaus mit ihren Fragen an. Das lässt sich aber nicht hochrechnen. Ich halte es auch nicht für hilfreich, irgendeine Signifikanz entdecken zu wollen. Ich gehe ja auch nicht zu anderen Berufsgruppen und schaue, ob es dort einen höheren Anteil an Homosexuellen gibt. Die Zahlen sind in erster Linie wichtig für die, die von außen blicken, weil hier viele Männer unter einem Dach wohnen. Das macht die Sache „spannend“. Das Thema gibt es im Priesterseminar wie in allen anderen Lebensbereichen auch. Wir dramatisieren es nicht, tabuisieren die Auseinandersetzung darüber aber auch nicht, sondern fördern sie.

Sind die oft jungen Kandidaten reif genug für eine solche Auseinandersetzung?

Wer zu uns kommt, muss in seiner menschlichen Entwicklung noch nicht fertig sein. Das Priesterseminar ist ein Ort, an dem ich wachsen darf. Und das ist ein Prozess, der das ganze Leben weitergeht. Unsere Studenten bringen eine große Bandbreite an Lebensgeschichten und Erfahrungen mit. Wir begleiten die Wachstumsprozesse und geben immer wieder Anstöße.

Mit welchem Ergebnis?

Auch das ist so unterschiedlich wie die jungen Männer hier. Wenn wir erkennen, dass jemand hierhergekommen ist, um sich mit seiner Sexualität nicht auseinander setzen zu müssen, dann muss das geklärt werden. Wir sind da sicher oft unverkrampfter in der Ansprache, als das in anderen gesellschaftlichen Bereichen, auch in vielen Familien, der Fall ist. Und damit vermeiden wir einen gefährlichen Effekt: Wenn ich der Auseinandersetzung mit meiner Sexualität, meinen Fragen und Neigungen aus dem Weg gehe, dann verbiete ich sie mir in gewisser Weise schon. Umgekehrt aber kann ich lernen, damit umzugehen, in meiner menschlichen Reife wachsen und ein guter Seelsorger werden.

Wie in der Ausbildung im münsterschen Priesterseminar Collegium Borromaeum das Thema Sexualität aufgegriffen wird, darüber berichtet die Bistumszeitung Kirche+Leben in der aktuellen Ausgabe. Ein Einzelexemplar dieser Ausgabe kann kostenlos per E-Mail angefordert werden.

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