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Ein Wort, ein Bild, ein Gedanke - von Jan Frerichs OFS
Die Ruhe zu bewahren, wenn es ringsum tobt, ist eine Kunst. Nicht zu verwechseln mit einer Rühr-mich-nicht-an-Mentalität. Und wo ist die Grenze?
„Der frühe Vogel fängt den Wurm“ heißt es ja sprichwörtlich. Und das heißt, wer schnell ist, wer Einsatz zeigt, wird auch mit Erfolg belohnt. Und da sagen neuerdings immer mehr Menschen: „Der frühe Vogel kann mich mal …“ oder „Am Arsch vorbei geht auch ein Weg …“ oder auch „Einen Scheiß muss ich“ – so jedenfalls lauten einige Buchtitel der vergangenen Jahre, die auch recht erfolgreich waren und man könnte hier einen Trend ausmachen gegen Leistungsdenken und permanente Selbstoptimierung. Ein neuer Gelassenheits-Trend? Und damit auch ein neuer Sinn für Spiritualität und Mystik?
Gelassenheit bedeutet für mich nicht, dass mich nichts mehr aus der Ruhe bringt, dass mich nichts mehr stört oder mich nichts mehr irgendwie angeht. Im Gegenteil. Gelassenheit bedeutet für mich, die eigenen Vorstellungen loslassen zu können, die eigenen VORstellungen WEGzustellen und sich ganz auf die Wirklichkeit einzulassen und auf das, was jetzt gerade ist.
Wenn Gott weggeht
Heinrich Seuse, der vielleicht bekannteste Schüler Meister Eckharts, ebenfalls Dominikaner und ein Mystiker, erzählt die folgende Geschichte: Als er einmal tief ins Gebet versunken ist, klopft es an der Klosterpforte und eine Frau bittet um Einlass. Sie möchte ihn sprechen. Er lässt sie wegschicken, denn er möchte nicht in seiner Versenkung gestört werden. Dann wird ihm klar: Die Versenkung ist ja schon gestört. Und – so sagt es Seuse – mit der Frau, die traurig gegangen ist, ist auch Gott weggegangen. Und Heinrich Seuse läuft ihr stundenlang nach durch die Ödnis.
Der Verlust ist der Anfang
SICHTWEISEN
Ein Wort, ein Bild, ein Gedanke – das sind die „Sichtweisen“, die einmal in der Woche ins Nachdenken bringen wollen, Welten eröffnen, Leben entdecken, Gott suchen helfen. Menschenlebensnah und gottverbunden. Jeder Monat wird von einer Autorin oder einem Autoren textlich gestaltet; die Redaktion von Kirche+Leben sucht zu dem jeweiligen Stichwort frei ein Foto.
Das ist ein schönes Sinnbild für den mystischen Weg, der eigentlich erst richtig beginnt mit dem Verlust der mystischen Erfahrung, mit dem Verlust der „jubilierenden Freuden“, und spannend ist genau dieser Moment, wenn der berühmte Groschen fällt, wenn ich die verpassten Chancen erkenne, wenn ich Menschen, Situationen und Ereignisse plötzlich in einem völlig neuen Licht sehe: In diesem Fall steht die Frau für all das, was vorher als störend empfunden wurde und überflüssig und plötzlich ist da die Erkenntnis, dass gerade da Gott selbst an die Tür geklopft haben könnte.
Ein Erwachen
Gelassenheit hat also auch etwas mit Zulassen zu tun. Da geht es um einen weiten Blick, ein neues Sehen, die Heilung von einer mysteriösen Blindheit, die mich bis dahin, bis zu dem Punkt, daran gehindert hat, das Göttliche auch in den Dingen zu erkennen, die mir vorher als störend erschienen sind oder überflüssig oder sonst irgendwie hinderlich.
Und schließlich spricht die Tradition da auch von „Erwachen“, so als hätten wir bis dahin geschlafen und plötzlich ist ein neues, ein waches Bewusstsein da.