Erinnerung an die beeindruckendste Liturgie der Welt in der Kathedrale von Paris

So großartig feierte Notre-Dame in Paris die Kar- und Ostertage

Nach dem verheerenden Brand am 15. April 2019 gab es schon im vergangenen Jahr keine Kar- und Osterliturgie in der Kathedrale Notre Dame von Paris. Das ist umso tragischer, als ihre zeitgemäße Gestaltung weltweit herausragend ist. Eine Erinnerung.

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Schon im vergangenen Jahr gab es nach dem verheerenden Brand am 15. April 2019 keine Kar- und Osterliturgie in der Kathedrale Notre Dame von Paris. Das ist umso tragischer, als ihre zeitgemäße Gestaltung weltweit herausragend war. Markus Nolte, Stellvertretender Chefredakteur von „Kirche-und-Leben.de“, hat diese Liturgien mehrfach mitgefeiert. In seiner Reportage, die vor einigen Jahren entstand, erinnert er sich an große Riten, großartige Musik und einen überwältigenden Gottesdienst-Raum.

KARMITTWOCH

Weihe der heiligen Öle in der Chrisam-Messe.Weihe der heiligen Öle in der Chrisam-Messe. | Foto: Markus Nolte

Die Kathedrale saugt die Stadt auf. Rings um Notre Dame strömt die Seine, strömt der Verkehr, strömt der Tageslauf – der Zeitenfluss seit Jahrhunderten. An diesem Abend aber saugt die Kathedrale die Stadt auf die Insel; nicht nur alle Priester und tausende Gläubige des Erzbistums Paris, sondern wirklich die ganze Stadt mit ihren Sorgen und Ängsten, Hoffnungen und Mängeln. Notre Dame nimmt sie an; die Île de la Cité – eine Rettungsinsel.

Chrisam-Messe. Eingeladen ist bewusst die Kirche von Paris: Bischöfe, Priester, Diakone, Ordensleute, Laien, Junge, Alte, Clochards und Professoren. Wie es aussieht, sind alle gekommen; die Kathedrale ist zum Bersten voll. Rot strahlt die Abendsonne über Paris durch das sperrangelweit geöffnete Hauptportal ins Innere von Notre Dame. Von oben stürzen bombastische Orgelklänge über die lange Prozession mit dem Erzbischof von Paris herab, die in großem Bogen über den Kathedralen-Vorplatz bis ins Innere führt. Im Mittelgang verteilt stehen auf drei gut zwei Meter hohen Podesten vier große, silberglänzende Karaffen, von hoch oben aus dem Gewölbe von Scheinwerfern punktgenau angestrahlt - drei helle Lichtinseln für die drei heiligen Salb-Öle: Kranken-Öl gleich am Eingang, Katechumenen-Öl in der Mitte, Chrisam-Öl vor dem Chorraum.

Die Bitten der Menschen in der Stadt

Nach der Predigt bringen Vertreterinnen der Benediktinerinnen von Saint Pierre auf dem Montmartre, von der Jerusalem-Gemeinschaft hinter dem Rathaus und von anderen monastischen Orden in Paris große rote Bücher zum Erzbischof, der diese in Empfang nimmt und neue rote Bücher überreicht: Fürbittbücher. Darin die Anliegen der Menschen von Paris, derer sich die Nonnen und Mönche angenommen und die sie vor Gott getragen haben in stillem Gebet. Die leeren Bücher – ein erneuter Auftrag des Bischofs der Stadt, diesen Dienst an den Menschen auch künftig zu übernehmen. Ein stellvertretender Dienst, gewürdigt und erbeten und bezeugt von allen in Notre Dame.

Zur Weihe der Öle ziehen alle Priester mit dem Erzbischof durch das Seitenschiff wieder zum Hauptportal, begleitet von Lichterträgern mit zwei Meter hoch aufragenden Flambeaux und dem Hymnus zum Heiligen Geist: „Veni, creator Spiritus!“ Der Bischof steigt drei Stufen an den Podesten mit den Ölkrügen empor, inmitten der Gemeinde, inmitten der Kathedrale, spricht das Segensgebet zu jedem Öl; und die Gläubigen singen: „Gedenke, Herr, deiner Liebe.“

Nach dem Gottesdienst empfangen Feuerspucker und Feuerjongleure die Menschen, die gewaltige Orgel von Notre Dame spielt ihnen die Hintergrundmusik.

GRÜNDONNERSTAG

Das Allerheiligste wird aus der Kathedrale gebracht.Das Allerheiligste wird aus der Kathedrale gebracht. Der Weihrauchschwenker begleitet es rückwärts gehend. | Foto: Markus Nolte

Der Abend der Liebesmüh und der Hingabe in der Stadt der Liebe. Während sich der Tag neigt und die Stadt allmählich ins alltägliche Nachtleben gleitet, senkt der Erzbischof in der Kathedrale sein Haupt und beugt die Knie – vor zwölf Männern, um ihnen die Füße zu waschen. Auch das zum Gedächtnis Jesu, seiner hingebungsvollen Liebe. Die Fußwaschung in der Liturgie bezieht erneut den ganzen großen Raum der weiten Kathedrale ein: An jeder der wuchtigen Säulen sitzt je einer, wiederum auf einem Podest; sie sind herausgehoben, müssen inmitten tausender Menschen ihre nackten Füße dem Erzbischof hinhalten, der muss sie berühren, waschen, trocknen. Peinlichkeit und Demut nah beieinander. Diese Zeremonie braucht ihre Zeit, sie führt durch die ganze Kathedrale, ein weiter Weg, den alle mitgehen, allemal mit den Augen. So auch das letzte Abendmahl, das - so wollen es die wiederholenden Worte des Berichts von der Einsetzung der Eucharistie – „heute“ stattfindet. Hier. Jetzt. In Paris.

Der Weihrauchschwenker geht rückwärts

Am Ende der Feier weicht die Wärme des Abendmahlssaals, zieht Kühle ein, wird der Raum geräumt, das Allerheiligste mitgenommen: In goldenes Tuch eingehüllt, trägt es der Erzbischof unsagbar langsam durch den Mittelgang, begleitet von den archaisch-kupfernen Flambeaux. Voran der Weihrauchschwenker – rückwärts  gehend! Stets das Fass schwingend und den Blick auf das Allerheiligste gerichtet, hüllt er es in heiligen Rauch. Wo immer die Eucharistie vorbeigetragen wurde, gehen die Lichter aus; allmählich versinkt der Dom im Dunkeln; bald sieht man weit weg noch Kerzen flackern, das goldene Tuch schimmern, lauscht dem verschwebenden Klang von Jean Langlais’ „Tantum ergo“ und der Stimme des Erzbischofs in der Ferne, der das Abschiedsgebet Jesu aus dem Johannes-Evangelium liest. Leise. In die Nacht.

Auf der Brücke über die Seine spielt ein Musiker einen traurigen Blues auf seinem Saxophon. Auf dem Rathausplatz wartet ein ganz in weiß gehüllter Pantomime regungslos auf eine Münze. Da! Jetzt bewegt er sich. An einer roten Ampel bedankt sich eine ältere Amerikanerin bei einem Priester mit Kollar für die „bezaubernde Liturgie“. Der Priester kann kein Englisch.

KARFREITAG

Karfreitag vor Sacre Coeur auf dem MontmartreKarfreitag vor Sacre Coeur auf dem Montmartre: Jongleure, Musik, buntes Treiben. | Foto: Markus Nolte

Es geht hinauf auf den Berg des Blutes: Montmartre, der Hügel der Märtyrer hoch oben über der Stadt, wo Saint Denis, der erste Bischof von Paris, hingerichtet wurde. Auf dem Weg dorthin plärrt aus den Lautsprechern der U-Bahn-Station am Gare de Lyon Umberto Tozzis „Gloria“-Schlager. Gloria! Wo doch gestern das Gloria mit Glockengeläut verabschiedet wurde. Im Untergrund der Metro hallt es noch immer nach. Unter dem Stadtleben an diesem Werktag. Im Dunkelreich. Das Gloria ist abgestiegen. Hinabgestiegen. Jesus hat das noch vor sich. Heute. In Paris.

Die Funiculaire-Zahnradbahn, die eigentlich den beschwerlich steilen Weg hoch nach Sacre Coeur erleichtern soll, ist ausgefallen. Technischer Defekt. Totalausfall auf unbestimmte Zeit. Bleibt nur, den hohen Weg zu Fuß anzutreten – 300 Stufen hinauf zum Herzen Jesu, das über der Stadt wacht. Der Weg geht in die Knochen.

„What a wonderful world“

Oben auf den Treppen von Sacre Coeur wie immer ausgelassene Stimmung. Die Touristen sitzen auf den Stufen in der Sonne, die an blauem Himmel über der diesigen Stadt steht. Ein verschleierter Tag, an dem der Vorhang des Tempels reißt und das Allerheiligste entblößt da steht. Ganz richtig, heute hier zu sein, wo doch sonst immer das Allerheiligste ausgesetzt ist. Immer! Aber heute nicht! Nicht seit gestern, nicht seit Jesu Auslieferung am Gründonnerstag. Heute ist der Raum für die große Monstranz leer, kein Lichtermeer aus Kerzen, nackt und bloß. Kalte Mauern, düsterer Stein statt Brot in Sacre Coeur. Die Stadt hat kein Herz mehr. Heute.

Draußen auf den Stufen in der Sonne spielt ein junger Mann Gitarre und singt den alten Louis-Armstrong-Song „What a wonderful world!“ Heute, wenn Jesus stirbt. Ein anderer jongliert rote Rollen auf einer Schnur. Das Spiel nennt sich „Diabolo“. Unterhalb der Basilika folgen tausende Menschen dem Kreuz; ihnen voran der Erzbischof. Durch das Mikrofon singt eine zarte Mädchenstimme die französische Version von „O Haupt voll Blut und Wunden.“ Ein Koch der Brasserie „Le Ronsard“ auf der Place Saint-Pierre backt Crêpes am offenen Fenster und summt leise mit. Viele bleiben auf der Straße stehen, verstummen ernsten Blickes angesichts des großen Kreuzes, das der Erzbischof die Stufen hinauf trägt.

Auf dem kurzen Stück mit der Metro von Barbès Rochechouart zur Station Anvers fährt der Zug draußen, außerhalb des Tunnels, ab. Ein deutsches Paar steigt ein, das, an den Koffern erkennbar, offensichtlich soeben am Flughafen Charles de Gaulle gelandet ist. Der Verkehr auf den Straßen und der Trubel auf den Trottoirs verschlägt den beiden beinahe die Sprache: „Alle Geschäfte haben geöffnet! An Karfreitag!“ - In Paris ist Werktag. In Rom übrigens auch.

Trommelschläge eröffnen den Karfreitag

Die Karfreitagsliturgie beginnt dementsprechend erst dreieinhalb Stunden nach der Todesstunde Jesu, um 18.30 Uhr. Sie hebt an, wie sie an Gründonnerstag geendet hat: im Dunkeln – ohne Beleuchtung im Mittelschiff. Nur vom geöffneten Hauptportal fällt etwas stumpfes Licht herein. Wolken sind aufgezogen, es ist grau draußen.

Mit einem Trommelschlag beginnt der Einzug, begleitet von weiteren, rhythmisch sich steigernden und lauter werdenden Trommelschlägen. Sie enden abrupt, als der Erzbischof am Altarraum ankommt. Archaischer Klang und doch ganz zeitgemäß. Sehr ernst. Äußerst eindringlich.

Ein strahlendes Kreuz

Zur Kreuzverehrung wird kein verhülltes Kreuz enthüllt. Wie auch immer das geschieht: Ein rund sieben Meter hohes, dunkles Kreuz am Zelebrationsaltar beginnt zu leuchten: zunächst zaghaft der Querbalken, dann ebenso zaghaft der Längsbalken, schließlich strahlt das ganze Kreuz in voller Intensität. Eine wundersame, aktuelle „Inszenierung“. Liturgische Dienste und Domkapitulare verehren dieses Kreuz. Einer von ihnen umfängt es kniend mit beiden Armen.

Nach dem Gottesdienst, in dem Jesus sein Leben aushaucht, ist der Saxophonspieler wieder auf der Seine-Brücke. Heute spielt er „The Police“: „Every breath you take. I’ll be watching you - Bei jedem Atemzug habe ich Acht auf dich.“

OSTERNACHT

Notre Dame strahlt in die Osternacht. | Foto: Markus Nolte

Große Kathedrale, große Musik, große Liturgie - großes Osterfeuer. Die meterhoch aufgeschichteten Holzscheite erinnern vor Beginn der Osternacht eher an einen Scheiterhaufen. Keine rühmliche Zeit damals, aber eine mächtige Kirche. Heute ist sie klein, und die Zeit braucht große Zeichen. „Vollform“ nennt das die Liturgiewissenschaft: Es braucht ein gewaltiges Feuer, um in der künstlich das Nachtdunkel vertreibenden Stadt als „neues Licht“ wahrgenommen zu werden.

„Vollform“: Alle vorgesehenen acht (!) Lesungen werden auch verkündet. Schon nach der ersten setzt die große Orgel ein und meditiert improvisierend den soeben gehörten Schöpfungsbericht, steigert sich vom feinsten Pianissimo in schreiende Klangwuchten des gewaltigen Instruments. Die Antwortgesänge steigern sich in ihrer Vielstimmigkeit nach jeder Lesung. Zum Halleluja scheint die Orgel zu explodieren. Das Osterevangelium wird auf Französisch und anschließend in der biblischen Ursprache Griechisch verkündet.

„Und ihr – glaubt ihr?“

Seit Jahren aus keiner Osternacht in Notre Dame wegzudenken: die Taufe von Erwachsenen. Mit violetten Schals um den Schultern stehen sie vor dem Altarraum. Die Melodie der modern vertonten Allerheiligen-Litanei steigt allmählich immer höher, wird immer intensiver, verlangt der Gemeinde immer mehr körperlichen Einsatz ab: „… bitte für uns.“

Der Erzbischof nennt bei jedem der verschiedenen Riten zu Taufe und Firmung laut und deutlich den jeweiligen Namen, der so in der großen Weite der Kathedrale widerhallt: „Cathérine, glaubst du …?“ Und Cathérine sagt Ja: „Je crois.“ Sogleich greift der Erzbischof mit einem Arm in die Gemeinde aus und fragt auch sei: „Et vous - Und ihr?“ Und alle sagen, mit dem frischen Klang des ersten Bekenntnisses im Ohr: „Ich glaube.“ Nach der Taufe wird den Neugetauften der violette Schal abgenommen und ein weißer Umhang umgelegt. Beim Auszug nimmt die große Prozession sie in die Mitte.

Drei Stunden Gottesdienst

Mehr als drei Stunden dauert diese große Feier in der Kathedrale von Notre Dame in Paris. Auch die anderen Liturgien der Heiligen Drei Tage feiern über zwei Stunden mit klug und einfühlsam zelebrierten Riten, uralt-bewährten und modern-ausgeformten Symbolen, vielen Sängern, Schola, Chören, zwei Orgeln, zwei Organisten, einer gewaltig großen, stets wachen, lebendigen Gemeinde und einem stets zugewandten Erzbischof, was zu feiern ist: den Tod und die Auferstehung Jesu. Und nach der Osternacht gehen sie hinaus in die Welt, und die Stadt kommt ihnen entgegen.

Eine solche großartige Feier wird es nach dem Feuer des 15. April 2019 in Notre Dame auf lange Zeit nicht geben.

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