Historiker aus Vechta über die angeblich heile katholische Welt

So sehr ist die Kirche im Oldenburger Dorfleben noch verhaftet

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Kirchliches Umfeld am Ende? Im Süden des Oldenburger Landes ist es anders, sagen Forscher aus Göttingen. Von einer multikulturellen Gesellschaft sei man dort noch weit entfernt. Fragen an Professor Michael Hirschfeld, Historiker an der Universität Vechta. In einem Vortrag hatte er betont: Die Kirche ist hier schon länger vielfältig, habe aber auch Alleinstellungsmerkmale.

Herr Professor Hirschfeld, erleben wir in Südoldenburg heile Welt in der Region mit der sprichwörtlichen Kirche im Dorf? Wissenschaftler aus Göttingen haben diesen Eindruck vermittelt.

Die heile Welt sehen vielfach Auswärtige. Sie lassen sich von großen Häusern und Wegekreuzen blenden und sind beeindruckt von den Resten der Volkskirche, die es hier noch gibt, etwa die Christi-Himmelfahrts-Prozession in Vechta. Wenn die Strahlenkranzmadonna und die Alexander-Reliquienarme durch die Stadt getragen werden, ist das eben ein beeindruckendes Bild. Aber am selben Tag werden 20.000 Menschen auf dem Vechtaer Stoppelmarkt erwartet, zu „Tante Mia tanzt“, dem größten Electro-Festival im Nordwesten. Da erleben wir eine ganz andere Freizeitkultur. Da ist die sprichwörtliche Kirche eben nicht mehr im Dorf.

Welche Veränderungen in der Gesellschaft haben die Kirche in der Region in den letzten Jahren betroffen?

Da denke ich an die wachsende Präsenz islamischer Gemeinden und nicht kirchennaher Vereine. Aber auch an das zunehmende gesellschaftliche Unverständnis über die hier traditionell verankerte konfessionelle Grundschule. Zu nennen ist auch der Wandel in der Bestattungskultur, wie der neue Friedwald bei Cloppenburg verdeutlicht.

Welche Folgen hat das für die Kirche in der Region? Steht sie gesellschaftlich an einem Wendepunkt?

Zweifellos. Aber als Historiker sehe ich die Langzeitperspektive. Die enthält viele Wendepunkte. Um nur die jüngsten zu nennen: Neben dem Kriegsende 1945 und dem Zustrom vielfach evangelischer deutscher Vertriebener aus dem Osten nenne ich nur das Zweite Vatikanum und die „68er“. Nicht zu vergessen, die Entwicklung Südoldenburgs zur Boomregion, mit der Kehrseite der Arbeitsmigration aus dem In- und Ausland. Die Zuwanderer aber verweigern sich weitgehend der katholischen Eingliederung. Das ist aber schon ein längerer Prozess.

Wie soll die Kirche hier reagieren?

Manches momentane kirchliche Jammern würde womöglich leiser ausfallen, wenn die historische Dimension des Wandels stärker beachtet würde. Vielfalt bietet nämlich auch Chancen: So sind etwa die Traditionen um unseren Wallfahrtsort Bethen, das Beispiel des Kardinals von Galen, der ja aus Dinklage stammt, Alleinstellungsmerkmale, die kein anderer Sinn-Anbieter hier hat. Dieses Potenzial kann die Kirche voranbringen, gerade in Zeiten wachsender Ängste und Bedrohungen. Sie muss diese Erinnerungsorte für die Kommunikation mit Menschen aus unkirchlichen Regionen und anderen Kulturkreisen nur einfach nutzbar machen.

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