"In diesem Fall muss das Selbstbestimmungsrecht zurückstehen"

Sozialethiker Lob-Hüdepohl: Impfpflicht als letztes Mittel kann kommen

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Angesichts steigender Infektionszahlen ist die Diskussion um die Einführung einer gesetzlichen Impfpflicht in Deutschland in vollem Gange. Der Berliner Sozialethiker Andreas Lob-Hüdepohl verweist im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur auf das Für und Wider dieser Maßnahme sowie mögliche Konsequenzen für Ungeimpfte. Letztlich habe es aber jeder selbst in der Hand, so der Professor an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin, der dem Deutschen Ethikrat angehört.

Herr Professor Lob-Hüdepohl, die Debatte um eine Impfpflicht wird in Deutschland heftig geführt, in anderen Ländern gibt es sie bereits. Warum wird sie nicht einfach angeordnet – so, wie andere Freiheitseinschränkungen in der Pandemie? Was ist das besonders Heikle beim Impfen?

Jede Impfung ist ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit. Jede Pflicht zur Impfung, die gegen den Willen einer Person unternommen wird, wäre Zwang. Selbst wenn diese Person widerwillig zustimmt, wird ihr Selbstbestimmungsrecht berührt. Sie sehen zwei sehr wichtige moralische und rechtliche Güter. Da reagieren viele zunächst empfindlich. Deshalb dürfen rechtlich sanktionierte Impfpflichten, wie wir sie von den Pockenschutzimpfungen kennen und die heute für die Masernschutzimpfungen gelten, nur als letztes Mittel eingesetzt werden. Und das scheint jetzt dringend geboten: zunächst für bestimmte Bereiche, in denen Ärztinnen, Pfleger oder Hausangestellte beruflich engen Kontakt zu besonders gefährdeten Personen haben.

Wenn die vierte Welle anschwillt, werden wir meines Erachtens um eine allgemeine Impfpflicht nicht herumkommen. Die kollabierende intensivmedizinische Versorgung führt heute schon zu extremen, manchmal sogar tödlichen Unterversorgungen anderer schwerer Erkrankungen. In diesem Fall muss das Selbstbestimmungsrecht zurückstehen. Es würde andere zumindest mittelbar töten.

Zu Beginn der Pandemie wurde beteuert „Es wird keine Impfpflicht geben!“ Nun rücken Entscheidungsträger davon ab. Leidet die Plausibilität der Argumente für die Impfpflicht an solchen Widersprüchen? Und wenn ja: Wie wäre diese Plausibilitätslücke heilbar?

„Sag niemals nie“, sagt ein Sprichwort. Und das trifft auf diese Pandemie voll zu. Das liegt an der unabsehbaren Dynamik dieser Pandemie. Deshalb sagen wir im Deutschen Ethikrat immer, „zum jetzigen Zeitpunkt“ scheint dieses oder jenes erforderlich oder ausgeschlossen. Wenn sich Sachverhalte gravierend ändern, dann ändern sich möglicherweise auch die ethischen und politischen Konsequenzen. Vor einem Jahr schien es unvorstellbar, dass sich so viele Menschen dem Schutz durch Impfung verweigern. Da diskutierten wir darüber, wie wir das Recht aller auf Impfschutz gewährleisten können. Da wollte man vermutlich die wenigen notorischen Impfgegner beruhigen. So verständlich das ist, für die politische Kommunikation war es ein Fehler.

Bei Gottesdiensten werden jetzt mancherorts Impf-Nachweise und/oder negative Testergebnisse kontrolliert. Darf die Kirche medizinische Zertifikate zur Zulassungsbedingung für den Sakramenten-Empfang machen?

Ich bin kein Kirchenrechtler. Aber als Moraltheologe sehe ich da kein Problem. Denn es wird ja nicht der Zugang zu den Sakramenten versperrt, sondern nur zu den Gelegenheiten, in Gemeinschaft das Sakrament etwa der Kommunion zu feiern und zu empfangen. Und wenn medizinische Zulassungsbedingungen für den Schutz der Gemeinschaft unumgänglich sind, dann sind sie zulässig, ja sogar geboten.

In der öffentlichen Debatte dominieren seit langem die Virologen, Epidemiologen und die Regierenden. Die Maxime, dass man aus der Beschreibung eines Ist-Zustandes keine ethischen Normen ableiten kann, scheint aufgehoben. „Die Wissenschaft“ scheint unmittelbar vorzugeben, was zu tun ist. Wie bewerten Sie das als Ethiker?

Gelassen. Als Ethiker bin ich Teil der Wissenschaft. Und es ist meine Aufgabe, die empirischen Sachverhalte, die etwa Virologen erheben, normativ zu beurteilen. Und daraus ergeben sich Handlungsempfehlungen an die Regierenden, die gemäß ihrer politischen Verantwortung entscheiden. Solche Empfehlungen haben immer die Struktur: Wenn Du die Bevölkerung schützen willst – und das ist moralisch geboten -, dann solltest Du dies oder jenes tun – sofern das mit bestimmten moralischen und rechtlichen Geboten vereinbar ist. All das sind sogenannte gemischte Urteile – Sachverhaltseinsicht und ihre normative Beurteilung. Für das erste sind die empirischen Wissenschaften zuständig, für das zweite die Normwissenschaften Ethik und Recht.

Es scheint möglich, dass alle „Ungeimpften“ von Teilen des gesellschaftlichen Lebens und von der Verwirklichung vieler Grundrechte ausgeschlossen werden. Welche Güter müssen abgewogen werden, um eine solche Einschränkung und Ausgrenzung zu rechtfertigen?

Solange die freiwillig Ungeimpften andere nicht unbotmäßig gefährden, dürfen sie von nichts ausgeschlossen werden. Sobald sie aber mit ihrer Entscheidung andere vielleicht sogar schwer gefährden, obwohl sie es durch eine Impfung vermeiden könnten, lassen sich Einschränkungen rechtfertigen – natürlich nur so lange, wie es für den Schutz anderer und der Gesellschaft erforderlich ist. Eine reine Strafaktion rechtfertigte einen Ausschluss nie. Aber mit Verlaub: Sie haben es selbst in der Hand, ihren Selbstausschluss zu beenden.

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