Bundesweit einmaliges Projekt wegen Nachwuchsmangels beendet

Stoppelmarkt verliert eine Institution – Alkoholfreies Zelt am Ende

Anzeige

Bundesweit einzigartig ist das „Alkoholfreie Zelt“ auf dem Vechtaer Stoppelmarkt. Gut 300 Ehrenamtliche aus katholischen Verbänden sorgen dort jedes Jahr für ein besonderes Angebot. Aus Nachwuchsmangel stellt es dieses Jahr seinen Betrieb ein.

Am 23. April um 10 Uhr fiel die Entscheidung: Das „Alkoholfreie Zelt“ auf dem Stoppelmarkt in Vechta ist Geschichte. Das achtköpfige Team aus katholischen Verbänden der Stadt beschloss im Pfarrheim St. Georg, sich für dieses Jahr nicht mehr um ein Festzelt auf dem größten Volksfest in Nordwestdeutschland zu bewerben. Es wäre das 45. Mal gewesen.

Ein Schritt, der Aufsehen, bei manchen auch Entsetzen erregte. Das „Alkoholfreie Zelt“ gehörte für die 800.000 jährlichen Besucher des Stoppelmarkts wie selbstverständlich dazu. Bei der Stadtverwaltung wusste Marktmeister Jens Siemer auf die Nachricht zuerst nichts zu sagen. Dann fragte er Hildegard Bröring fassungslos: „Haben Sie sich das gut überlegt?“

Rund 300 Menschen jährlich im Einsatz

Hildegard Bröring aus Vechta über der Buchhaltung eines besonderen Projekts: Mit dem „Alkoholfreien Zelt“ auf dem Stoppelmarkt in Vechta erwirtschaftete ein Team aus katholischen Verbänden Überschüsse für soziale Zwecke. | Foto: Franz Josef Scheeben
Hildegard Bröring aus Vechta über der Buchhaltung eines besonderen Projekts: Mit dem „Alkoholfreien Zelt“ auf dem Stoppelmarkt in Vechta erwirtschaftete ein Team aus katholischen Verbänden Überschüsse für soziale Zwecke. | Foto: Franz Josef Scheeben

So jedenfalls schildert Bröring ihr Gespräch mit der Stadtverwaltung. Als Sprecherin des Organisationsteams hatte sie ihm den Beschluss überbracht. Kein einfacher Schritt, wie sie versichert. „Aber wir hatten keine Alternative.“

Denn das „Alkoholfreie Zelt“ wird nur von Ehrenamtlichen getragen, eine lose Arbeitsgemeinschaft aus dem Umfeld der Pfarrgemeinde Mariä Himmelfahrt. Seit der Gründung des Zeltes 1977 waren jedes Mal während der sechs Markttage rund 300 Menschen im Einsatz: bei Auf- und Abbau des Zeltes, bei der Bedienung, beim Ausschank an der Theke, in der Küche. Alle in Schichten von vier bis fünf Stunden. Ehrenamt – das war immer das Markenzeichen.

Mit 63 die Jüngste im Organisationsteam

Frieda Hellbernd hat vor 45 Jahren das Alkoholfreie Zelt mit anderen Ehrenamtlichen gegründet. | Foto: Franz Josef Scheeben
Frieda Hellbernd hat vor 45 Jahren das Alkoholfreie Zelt mit anderen Ehrenamtlichen gegründet. | Foto: Franz Josef Scheeben

Aber dafür seien immer weniger Menschen zu bewegen, sagt Hildegard Bröring. Man könne vielleicht noch einige Menschen für einzelne Schichten gewinnen. Bei der Frage nach dauerhaftem und intensiverem Einsatz – „da winken alle schnell ab.“

Diese intensive Arbeit liegt vor allem bei dem achtköpfigen Organisationsteam. Und das ist in die Jahre gekommen. Zum Beispiel Karl-Heinz Heidemann, früher bei der Kriminalpolizei und verantwortlich für Technik und Zeltaufsicht: 80 Jahre alt. Oder Christa Bröring, früher Schuhverkäuferin und verantwortlich für den Einkauf: 85 Jahre. Hildegard Bröring ist gerade als Pfarrsekretärin in den Ruhestand gegangen. Mit 63 Jahren ist sie im Team die Jüngste.

Nachwuchs bleibt aus

Im Alkoholfreien Zelt waren oft mehr als 250 Menschen zu Gast (Archivfoto von 2008). | Foto: Michael Rottmannn
Im Alkoholfreien Zelt waren oft mehr als 250 Menschen zu Gast (Archivfoto von 2008). | Foto: Michael Rottmannn

Über die Jahre habe sie immer wieder versucht, Menschen etwa für das Organisationsteam zu gewinnen, versichert Hildegard Bröring. „Ihnen angeboten, sich erst einmal einzuarbeiten. Aber die letzte Verantwortung, die wollte dann doch niemand übernehmen.“ Einfach so, sich ohne Geld einsetzen, das sei heute anscheinend für viele schwer vorstellbar. Hildegard Bröring sagt das sichtlich enttäuscht.

Die Corona-Pandemie habe den Stoppelmarkt-Betrieb für zwei Jahre unterbrochen. Dieses Jahr wird der Markt wieder stattfinden; deshalb überlegte das Team auch, sich wieder zu bewerben. Bei dem Krisentreffen am 23. April sei aber allen klar gewesen: Noch einmal schaffen wir das nicht.

Von Anfang an dabei

Karl-Heinz Heidemann war Kriminalpolizist und hat die Technik im Zelt betreut. | Foto: Franz Josef Scheeben
Karl-Heinz Heidemann war Kriminalpolizist und hat die Technik im Zelt betreut. | Foto: Franz Josef Scheeben

Hildegard Bröring selbst ist von Anfang an dabei, seit 1977. Damals gehörte sie zur Katholischen Landjugend und half bei der Bedienung. Später übernahm sie verantwortliche Aufgaben, 2002 wurde sie die offizielle Sprecherin des Teams.

Denn auf einer offiziellen Sprecherin besteht die Stadt Vechta, die die Plätze auf dem Markt vergibt. Hildegard Bröring ist amtlich eine „Marktbeschickerin“.

Plätze für Festzelt heiß begehrt

Immerhin ist der Stoppelmarkt in Vechta auch eine hochpolitische Angelegenheit. Wer überhaupt dort ein Festzelt betreiben darf, entscheidet der Ausschuss für Marktwesen im Stadtrat. Solche Plätze sind heftig umkämpft unter örtlichen Gastronomen.

Wie hat das „Alkoholfreie Zelt“ es 1977 überhaupt auf dieses Fest geschafft, bei dem doch das Bier in Strömen fließt?

Zunächst offene Ablehnung in der Politik

Bei den Politikern gab es damals offene Ablehnung. „Passt nicht auf den Stoppelmarkt!“, hieß es. Auch: „Da könnte ja jetzt jeder Verein kommen!“ Der Bürgermeister bekämpfte das Projekt unverhohlen. Daran erinnert sich Frieda Hellbernd gut. Sie ist heute 96 Jahre alt und saß damals mit drei anderen Ehrenamtlichen aus Katholischem Frauenbund und katholischer Pfarrjugend vor den Ratsherren und stellte das Projekt vor.

Frieda Hellbernd war hartnäckig. Sie konnte darauf verweisen, dass katholische Frauen schon einmal, 1925 und 1926, ein solches Zelt auf dem Stoppelmarkt betrieben hatten. Zudem müsse es angesichts zunehmender Alkoholprobleme ein alternatives Angebot auf dem Markt geben, etwa für Alkoholkranke und Familien.

Alkohol war ein großes Problem

Christa Bröring war Schuhverkäuferin und hat den Wareneinkauf für das Zelt organisiert. | Foto: Franz Josef Scheeben
Christa Bröring war Schuhverkäuferin und hat den Wareneinkauf für das Zelt organisiert. | Foto: Franz Josef Scheeben

Alkoholprobleme: Die Frauenbundvorsitzende handelte damals aus dem für sie offensichtlichen Eindruck. Sie hatte aber die Fakten hinter sich. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen bestätigt heute, dass der Alkoholkonsum in Deutschland sich von 1950 bis 1975 vervierfachte und damals einen einmaligen Höhepunkt erreichte. Das „Alkoholfreie Zelt“ wurde deshalb schnell auch ein Projekt, bei dem der Kreuzbund mitarbeitete, der katholische Verband für Suchtkranke.

Der Stadtrat gab seinen Widerstand schließlich auf. Machte aber zur Bedingung, dass die Verbände wie andere Gastronomen auch behandelt würden: jedes Jahr neu bewerben, strenge amtliche Kontrollen, das offizielle Standgeld bezahlen, damals 2.100 Mark.

Familienfreundliche Preise

„Dabei wussten wir noch nicht einmal, wie viel wir einnehmen würden“, sagt Frieda Hellbernd. Denn ein Markenzeichen des Zeltes sollten ja die familienfreundlichen Preise sein. Die blieben auch billig: Noch beim Stoppelmarkt 2019 kostete die Tasse Kaffee oder ein Glas Apfelschorle nur 1,50 Euro, ein Schinkenbrot 2 Euro, die Bockwurst mit Kartoffelsalat 3 Euro.

Das Zelt wurde trotz aller Sorgen sofort ein großer Erfolg: Zusammen mit der Pfarrjugend konnte der Frauenbund rund 300 Ehrenamtliche für die vielen Aufgaben mobilisieren. Und trotz Standgeld und anderer Kosten erwirtschaftete das Team schon beim ersten Mal einen Überschuss. Jedes Jahr ein Überschuss – dabei ist es bis heute geblieben. Auch bei den 300 Ehrenamtlichen.

Täglich Hunderte Gäste

Zusammengerechnet: Bei der letzten Marktteilnahme erzielte das Alkoholfreie Zelt einen Umsatz von rund 27.000 Euro. | Foto: Franz Josef Scheeben
Zusammengerechnet: Bei der letzten Marktteilnahme erzielte das „Alkoholfreie Zelt“ einen Umsatz von rund 27.000 Euro. | Foto: Franz Josef Scheeben

Die bedienen immer zu zwölft an den 30 Tischen, täglich bis zu 250 Gäste gleichzeitig. Sie stehen an der Theke, kochen Kaffee und schenken Getränke aus. Sie stehen in der Küche, schieben dort Koteletts in die Mikrowelle, schmieren Mettbrote und schneiden Diabetiker-Käsekuchen, räumen die Spülmaschine ein. Oder sie stehen am Tag vor Marktbeginn morgens auf der Leiter und montieren die Beleuchtung, stellen in der Küche die Einrichtung auf, schließen Wasser und Strom an.

Oder sie sorgen für die Nachtwache. Denn das Zelt lässt sich nicht abschließen, und gestohlen wird gern auf dem Stoppelmarkt. Vor drei Jahren ist es Dieben gelungen, nachts ein Hochleistungskabel zwischen Zelt und Stromkasten zu kappen und zu stehlen. „40 Meter lang, mit Adapter und Akku“, sagt Karl-Heinz Heidemann. „Gut 1.400 Euro wert.“ Der technische Leiter ärgert sich noch heute.

Etwa 10.000 Euro Überschuss

All die Ehrenamtlichen sorgten für einen enormen Umsatz. 2018 zum Beispiel erwirtschaftete das Team rund 23.000 Euro, 2019 dann rund 27.000 Euro. Nach Abzug der Kosten blieben über die Jahre meist etwa 10.000 Euro Überschuss. Der floss immer als Spende für örtliche wohltätige Zwecke.

Das Projekt erregte Staunen und Bewunderung, fand höchste Anerkennung. Der Bundespräsident verlieh Frieda Hellbernd 1993 das Bundesverdienstkreuz am Bande, der niedersächsische Ministerpräsident überreichte dem Team 2012 den „Niedersächsischen Ehrenamtspreis“.

Arbeiten bis tief in die Nacht

Bei sechs Tagen Stoppelmarkt im August kommen jedes Jahr rund 800.000 Menschen zusammen. | Foto: nph/ (imago)
Bei sechs Tagen Stoppelmarkt im August kommen jedes Jahr rund 800.000 Menschen zusammen. | Foto: nph (imago)

Um so schwerer fällt es den Verantwortlichen, das „Alkoholfreie Zelt“ aufzugeben. Aber sie haben ihre Gründe. Christa Bröring etwa, verantwortlich für den Wareneinkauf, ist inzwischen 85 Jahre. Beim Stoppelmarkt 2019 kam sie einmal nachts um halb zwei aus dem Zelt. Auf dem Weg zum Parkplatz bahnte sie sich den Weg durch die feiernde Masse. Augenzwinkernd sagt sie: „Ich alte Frau zu dieser Zeit noch unter all den jungen Leuten – was sollten die denn denken?“ Dann ernst: „Ich hätte jetzt auf jeden Fall aufgehört.“

Begeisterung ohne Rücksicht auf das Alter – irgendwann konnten und wollten die ehrenamtlichen Frauen und Männer im Team das nicht mehr.

Vechta sucht noch Nachfolger

Die Stadt Vechta traf die Absage unvermittelt. Sie versucht nun, Nachfolger zu finden, die das „Alkoholfreie Zelt“ in irgendeiner Form weiterführen, vielleicht andere Vereine. Bis jetzt hat sich noch niemand gemeldet.

Kein Wunder: Der Deutsche Schaustellerbund in Berlin bestätigt auf Nachfrage, ein nur von Ehrenamtlichen getragenes alkoholfreies Zelt gebe es seinen Ermittlungen nach auf Volksfesten und Märkten in ganz Deutschland nicht. Die katholischen Vereine in Vechta waren und bleiben mit ihrer Idee also einzigartig.

Anzeige