Forscher interviewt seit 2019 Landwirtsfamilien: Berichte von Mobbing und Missachtung

Sündenbock-Image belastet Bauern noch mehr als niedrige Preise

  • Bauerndemos wie derzeit vor den Lagern von Supermarktketten sind ein Ventil für Landwirte, denn angesichts der drückenden Lage sei es schwer für sie, untätig zu bleiben. Das sagt der Volkskundler Thomas Schürmann.
  • Er hat 34 Landwirtsfamilien im Oldenburger Münsterland intensiv nach Sorgen und Zukunftsaussichten befragt. 
  • Überraschende Ergebnis: Nicht Erzeugerpreise nennen viele von ihnen als Erstes als belastend, sondern mangelnde gesellschaftliche Anerkennung.

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Auch in der Nacht auf Dienstag haben sie wieder Aldi-Zentrallager blockiert, unter anderem in Norddeutschland, aber auch in Greven im Münsterland. Vor einer Filiale im niedersächsischen Stade lag frühmorgens ein Haufen Kuhmist, laut Polizei rund zehn Kubikmeter. Keine Frage: Die Bauern sind sauer auf den Discounter. Kurz vor Silvester geht es um den Butterpreis, den Aldi noch weiter nach unten drücken will. Anfang Dezember hatten Landwirte es bei Lidl in Cloppenburg ähnlich gemacht. Ihr Vorwurf: Die Preispolitik der Handelsriesen kostet uns die Existenz.

Dass auf vielen Höfen schon länger schlechte Stimmung herrscht, das liegt indes nicht nur an den niedrigen Preisen für Milch oder Fleisch. Viele Landwirte fühlen sich auch von der Öffentlichkeit falsch und ungerecht wahrgenommen. Wie sehr Bauern und ihre Familien unter einem schlechten Image leiden, das spürt auch Thomas Schürmann derzeit bei seinen ausführlichen Gesprächen auf Höfen im Oldenburger Münsterland.

 

Schlechtes Ansehen tut weh

 

Seit mehr als einem Jahr ist der promovierte Volkskundler dort unterwegs auf Interview-Rundreise zu Landwirtsfamilien. Für das Kulturanthropologische Institut Oldenburger Münsterland in Cloppenburg will er herausfinden, wie es um Höfe in der Region steht: wie sie selbst ihre wirtschaftliche Lage einschätzen aber auch ihre gesellschaftliche Anerkennung. Und genau damit sieht es in den Augen vieler derzeit schlecht aus, sagte Schürmann auf Nachfrage von „Kirche-und-Leben.de“.

Bei einem Gespräch habe ein Landwirt zum Beispiel gesagt: „Mit den schlechten Erzeugerpreisen kann man leben. Das schlechte Ansehen tut viel mehr weh.“ Er frage sich: „Wieso mache ich das eigentlich alles?“ Und eine Landwirtin, die bei der großen Bauerndemo im September 2019 auf dem Domplatz in Münster mit dabei war, fragt sich verzweifelt: „Werden wir überhaupt noch gewollt?“

 

„Alles, was wir machen, ist falsch“

 

Thomas SchürmannThomas Schürmann ist als promovierter Volkskundler macht für das Kulturanthropologische Institut Oldenburger Münsterland in Cloppenburg Interviews mit Landwirtsfamilien. | Foto: privat

Solche Reaktionen zählen zu den Dingen, die Thomas Schürmann bei seinen Interviews bisher am meisten überrascht haben. Er war davon ausgegangen, dass Landwirte bei der Frage nach der größten Belastung für sie zuerst niedrige Schweine- oder Milchpreise nennen würden. „Aber die Erzeugerpreise kamen in den Gesprächen eher unter ferner liefen.“ Das schlechte Image dagegen bedrücke sie weitaus mehr.

„Landwirte sehen sich gebrandmarkt als Tierquäler, als Umweltvergifter, als Verursacher von allem Möglichen“, sagt Thomas Schürmann. Einige erzählten, dass Bauernkinder deswegen in der Schule gemobbt würden. Und eine Landwirtin ließ offen ihren Frust raus: „Wir sind nur noch Schwerverbrecher; alles, was wir machen, ist falsch.“

 

Sinkende Preise seit zwei Generationen

 

Dazu kommen die wirtschaftlichen Sorgen. Die Frage etwa, ob und wie sie ihre Betriebe halten können, wenn die Preise immer weiter fallen. Schürmann hat auch Folgen der aktuellen Krisen wahrgenommen. Er denkt an die bedrückten Gesichter einer Familie, die von den Auswirkungen der Corona-Pandemie berichteten, als Landwirte wegen geschlossener Schlachtbetriebe ihr Vieh nicht loswurden. Und später auch die Sorgen wegen der afrikanischen Schweinepest.

Auch die Angst vor dem Aus habe natürlich Folgen für die Stimmungslage. „Seit zwei Generationen sinken die Erzeugerpreise immer mehr. Und als Botschaft kommt an: Eure Arbeit ist eigentlich immer weniger wert.“ Gerade für die Besitzer alter Höfe sei das besonders bitter, „sich von der Gesellschaft missachtet zu sehen und in näherer Zukunft vielleicht die Hoftore schließen zu müssen.“

 

Schürmann: Demos werden wenig erreichen

 

Und wie gehen sie damit um? Eine verbreitete Reaktion, von dem ihm Familien erzählten: Sie ziehen sich immer mehr zurück aus dem gesellschaftlichen Leben: „Man reduziert die Kontakte außerhalb des eigenen Kollegenkreises, man geht nicht mehr zum Stammtisch, weil man das Diskutieren leid ist; mitunter zieht man sich auch in eine Opferrolle zurück: Ich bin Landwirt, und ich bin an allem schuld.“

Dass Bauern jetzt für ihre Anliegen demonstrieren, dass sie Aldi- oder Lidl-Zentrallager blockieren, sieht Schürmann als eine Art Ventil. „Der Leidensdruck ist da, und es gibt ja nur wenige Möglichkeiten, Druck auszuüben.“ Er zweifelt jedoch daran, dass die Proteste Erfolg haben: „Trecker-Demonstrationen und andere Aktionen werden wenig erreichen, weil sie die wirtschaftlichen Verhältnisse nicht ändern. Und am Ende bleibt ein Gefühl von Ohnmacht.“ 

Das Interview-Projekt
Seit September 2019 führt Thomas Schürmann offene Interviews mit Landwirten und Landwirtsfamilien im Oldenburger Münsterland. Das ist in etwa die niedersächsische Region zwischen dem Saterland im Norden und Neuenkirchen im Süden sowie Löningen im Westen und Visbek im Osten. Seine Fragen zielen auf die Situation und die Perspektiven, wie die Landwirte der Region sie selbst einschätzen. Im Hintergrund steht die Frage nach einer Zukunftseinschätzung für die regionale Landwirtschaft, die dort gemeinsam mit weiteren Betrieben der Agrar- und Ernährungswirtschaft ein wichtiges wirtschaftliches Standbein bildet. Aus dem, was ihm in den Interviews berichtet wird, soll sich ein Gesamtbildbild ergeben, das Schürmann anschließend zu einem Buch verarbeiten will.
34 Interviews hat der 57-jährige Volkskundler bereits geführt und ist immer noch auf der Suche nach Landwirtsfamilien aus dem Oldenburger Münsterland, die bereit sind, ihm von der Situation auf ihrem Hof zu berichten. Interessierte erreichen ihn telefonisch unter 04471/701 06 62 oder unter schuermann@kai-om.de.

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