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Nach Missbrauchsvorwürfen fragt auch die Heimat Ahlen: Warum handelte das Bistum Münster so spät? Derweil melden sich weitere mutmaßlich Betroffene.
Das Holzkreuz an der Wand im Gemeindesaal von St. Ludgeri hängt etwas schief. Unter dem Gekreuzigten sitzen zwei Vertreter des Bischöflichen Generalvikariats aus Münster. Eva-Maria Kapteina, Juristin und seit 2024 Interventionsbeauftragte des Bistums, und Stephan Kronenburg, Pressesprecher des Bistums, haben an diesem Abend keinen leichten Stand. Sie sind nach Ahlen gekommen, um Mitgliedern der Pfarrei St. Bartholomäus, Rede und Antwort zu den Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs eines von Bischof Felix Genn suspendierten Priesters aus Beckum zu stehen. Und sie müssen zugeben, dass etwas in Münster gehörig schiefgelaufen ist in diesem Fall, der die Gemüter Ahlener Katholiken seit Bekanntwerden der Vorwürfe bewegt.
Bei Mitarbeitern und Gemeindemitgliedern sind in den vergangenen Tagen Tränen geflossen. Und auch am Dienstagabend kann Pastoralreferent Ralf Peters nur mit Mühe seine Tränen unterdrücken. „Der Gesprächsbedarf und die tiefe Bestürzung sind groß“, berichtet Pfarrer Bernd Egger. Und das hat einen Grund: Der betroffene Pfarrer stammt aus Ahlen. Nachmittags hat Egger einen Hausbesuch bei einer älteren Frau gemacht, die sich noch gut an die Heimatprimiz des Mannes erinnern kann. „Es gibt ganz viele Bezüge und gute private Beziehungen zu St. Bartholomäus“, sagt Egger, der sich einen guten Umgang mit dem Thema wünscht und deshalb die Vertreter des Generalvikariats nach Ahlen eingeladen hat.
Missbrauchsverdacht: Die Vorwürfe und der Verlauf
Eva-Maria Kapteina geht zunächst auf die Vorgeschichte ein. Gegen den Priester hatte es bereits 2015 und 2019 Vorwürfe grenzüberschreitenden sexuellen Verhaltens gegeben. Das ursprüngliche Verfahren wurde jedoch mangels hinreichender Erkenntnisse von der Staatsanwaltschaft eingestellt. Auch die kirchenrechtliche Voruntersuchung kam zu keinem anderen Ergebnis.
Aufgrund eines Hinweises vom Bischöflichen Gymnasium und Internat Loburg in Ostbevern, wo der Priester von 1996 bis 2002 als Spiritual tätig war, wurde von der Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) in Bonn 2022 eine Auszahlung an den von Missbrauch Betroffenen angewiesen, für die das Bistum Münster zuständig war. Den neuen Vorwürfen gegen den Priester wegen sexuellen Missbrauchs in den Jahren 2000/2001 ist man in Münster jedoch erst 2024 nachgegangen. Eva-Maria Kapteina, die nach der Pensionierung ihres Vorgängers im selben Jahr als Interventionsbeauftragte im Amt ist, erklärt: „Die Vorwürfe sind derart relevant und plausibel, dass das Verfahren an die Staatsanwaltschaft Münster übergeben worden ist.“
Fragen über Fragen
Warum ist der Pfarrer nicht früher suspendiert worden? Warum hatte er weiter mit jungen Menschen in der Beckumer St.-Stephanus-Gemeinde bei Firmvorbereitungen und anderen Aufgaben Kontakt? „Warum konnte der Mann auch zu seinem Selbstschutz weiter in einer Gemeinde eingesetzt werden? Das verstehe ich nicht“, kann auch Pastoralreferent Thomas Gocke es nicht fassen.
Auf diese offenen Fragen haben auch die Vertreter aus Münster keine Antwort. „Das können wir uns nicht erklären, wir können nur spekulieren und Ihnen keine ehrliche Antwort geben“, bedauert Kapteina. Und Kronenburg ergänzt: „Das ist eine absolute Ausnahme, dass nichts unternommen wurde.“ In aller Regel würden Priester bei solchen Vorwürfen „aus dem Verkehr gezogen“.
„Es wird uns immer schwerer gemacht, Kirche zu leben“
Angesichts der vielen Ungereimtheiten macht Bernd Egger deutlich: „Ich weiß nicht, wie ich als Pfarrer die bischöflichen Behörden verteidigen kann.“ Dass er hin- und hergerissen und verzweifelt sei, sagt auch ein emotional sehr angefasster Pastoralreferent Ralf Peters. Er spricht von „wahnsinniger Ohnmacht, die in Wut umschlägt“. „Der Fall treibt mich von morgens bis abends um. Es wird uns immer schwerer gemacht, Kirche zu leben“, kritisiert Carola Paulmichl, dass sich eigentlich andere Vertreter des Bistums wie Generalvikar Klaus Winterkamp den Fragen stellen müssten. „Ich kann Sie nur persönlich um Entschuldigung bitten, dass Fehler gemacht wurden“, erklärt Kronenburg. Es passierten „leider Gottes immer mal wieder solche Fehler“.
Zur Frage einer Verjährung des sexuellen Missbrauchs stellt Kapteina klar: „Verjährungsregeln sind kompliziert. Deshalb ist nicht von vorneherein klar, dass die Staatsanwaltschaft ihre Untersuchungen einstellt.“ An der Glaubwürdigkeit der Betroffenen bestünden keine Zweifel, auch wenn sie sich erst nach Jahrzehnten meldeten. Dem voraus gehe ein „langer Prozess stillen Leidens“, aus Scham könnten sich Betroffene selbst gegenüber nächsten Angehörigen nicht mitteilen, so die Vertreter des Bistums. Da es allein angesichts des seelischen Schadens mit Geld nicht getan sei, gebe es weitere Hilfestellungen wie die Übernahme von Therapiekosten. Das Bistum habe aber auch eine Verantwortung gegenüber dem beschuldigten Priester, für den es ebenfalls Therapieangebote gebe.
Wie es weitergeht
Eva-Maria Kapteina rechnet mit mindestens einem Jahr für die staatsanwaltlichen und kirchenrechtlichen Untersuchungen. Danach müsse der Fall vorschriftsmäßig nach Rom gegeben werden. Pressesprecher Kronenburg verspricht, dass die Öffentlichkeit über den Verlauf und die Ergebnisse des Verfahrens weiter informiert werde.
Pfarrer Bernd Egger spricht wohl vielen Gemeindemitgliedern aus dem Herzen, als er zum Schluss sagt: „Es gibt kein zufriedenstellendes Ergebnis an so einem Abend. Das Thema spaltet auch in diesem Fall wieder. Er zeigt aber auch, wie wichtig es ist, die Augen offenzuhalten, die Menschen zu sensibilisieren und vorbeugend aktiv zu sein.“
Von der Stirnseite des Gemeindesaals blickt der Gekreuzigte auf die fassungslosen Gemeindemitglieder. Redebedarf scheinen sie auch über diesen Abend hinaus zu haben.
Weitere Vorwürfe gegen denselben Priester
Im Fall eines am 15. Januar von Bischof Felix Genn vom Dienst freigestellten Priesters, der zuletzt als Pastor in der Pfarrei Beckum St. Stephanus eingesetzt war, haben sich weitere mutmaßlich Betroffene beim Bistum Münster gemeldet. Das berichtet die Bischöfliche Pressestelle am 30. Januar 2025. Die weiteren Personen erheben demnach Vorwürfe sexuellen Missbrauchs und grenzüberschreitenden sexuellen Verhaltens gegen den Priester. Eine aktuelle Meldung habe das Bistum in Absprache mit der betroffenen Person an die Staatsanwaltschaft gegeben. Bei zwei weiteren Meldungen möchten die betroffenen Personen anonym bleiben.
Alle nun erhobenen Vorwürfe stehen in Zusammenhang mit der Tätigkeit des Priesters als Spiritual an der Loburg (Gymnasium und Internat) in Ostbevern. Dort war er von 1996 bis 2002 eingesetzt. Der Priester war laut Pressemitteilung des Bistums nach seiner Priesterweihe 1992 zunächst Kaplan in Harsewinkel. Weiter heißt es darin: „Nach seiner Zeit am Gymnasium Johanneum war er Subsidiar im Dekanat Recklinghausen und in Rinkerode. 2005 wurde er Pfarrer in Hamm-Bockum-Hövel und war von 2008 bis 2016 in der Klinikseelsorge an den Universitätskliniken der Universität Münster eingesetzt. Zusätzlich zu seiner Tätigkeit in Beckum war er von 2019 bis 2020 auch Pfarrverwalter in Everswinkel St. Magnus und St. Agatha.“
Sollte es Betroffene des Priesters an diesen Einsatzorten geben, können diese sich weiterhin unmittelbar bei den Ansprechpersonen des Bistums Münster oder bei der Stabsstelle Intervention und Prävention des Bistums Münster (Tel. 0251-495-6967 oder 0251-495-6029) melden. Alle Kontaktdaten finden sich auf https://www.bistum-muenster.de/sexueller_missbrauch