Emotionale Erfahrungen beim Letzte-Hilfe-Kurs

Tabu-Thema Tod: Wie gute Vorbereitung das Sterben erleichtern kann

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Der Tod ist für viele Menschen noch immer ein Tabu-Thema. Dabei gehört er unweigerlich zum Leben dazu. Unsere Mitarbeiterin Maria Kessing berichtet von ihrer Teilnahme am Letzte-Hilfe-Kurs in Hamm und schildert ihre Erfahrungen.

Ich bin hier, weil ich schon als Kind mit den Themen Sterben, Tod und Trauer aufgewachsen bin. Auf dem Land, wo ich groß geworden bin, war es selbstverständlich, dass die Toten zuhause aufgebahrt wurden. Ich erinnere mich noch gut an die erste Begegnung mit einer verstorbenen älteren Frau. Man ging in das Haus, in dem sie gestorben war. Man spendete Trost, betete gemeinsam und bot den Angehörigen seine Hilfe an und nahm von der Toten von Angesicht zu Angesicht endgültig Abschied.

In späteren Jahren habe ich sterbende Großeltern, eine Tante, meine Mutter und auch gute Freunde an ihrem Lebensende begleitet. Man denkt oft in solchen Situationen über seinen eigenen Tod nach.  Eines Tages wird auch mein fast 94-jähriger Vater mich verlassen. Verlusterfahrungen gehören zu unserem Leben. Der Abschied vom Leben ist der schwerste, den die Lebensreise für einen Menschen bereithält. Deshalb braucht es jemanden, der einem die Hand reicht. Diese Hand zu reichen, erfordert Mut und Wissen.

Tod noch immer Tabu-Thema

Der Tod ist und bleibt ein Tabu-Thema. Gesellschaftlich verdrängt, rückt die bewusste Auseinandersetzung mit dem Tod ins Abseits. Dabei kann der bewusste Abschied vom Leben nicht nur das Sterben erleichtern, sondern auch die Trauer und das Weiterleben der Angehörigen.

Die Erste Hilfe ist ein fester Bestandteil in unserer Gesellschaft. Fast jeder hat schon einmal einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert und erinnert sich zumindest vage daran, wie man einen Menschen reanimiert oder in die stabile Seitenlage bringt. Zumindest aber daran, wie man auf schnellstem Wege Unterstützung holt. Aber letzte Hilfe?

Seit 2015 gibt es Letzte-Hilfe-Kurse

Wie geht das?  Das Lebensende macht oft hilflos. Deshalb gibt es in Deutschland seit 2015 Letzte-Hilfe-Kurse. Dabei geht es darum, am Ende zu wissen, wie es geht. Die Idee dazu hatte der Palliativmediziner Georg Bollig aus Schleswig. Ich habe einen solchen Kurs im Ambulanten Hospizzentrum in Hamm besucht:

An einem Freitagnachmittag versammeln sich in einem Seminarraum elf Teilnehmende in einem Stuhlkreis, vor sich ein Namensschild. Sie haben vier Stunden mit den beiden Kursleiterinnen Ela Gauch und Judith Schwieters vor sich. Beide sind gelernte Krankenschwestern und als Koordinatorinnen im Ambulanten Hospizdienst beschäftigt.

Es dürfen auch Tränen fließen

Auch Aromaöle könnten eine gute Unterstützung in der Sterbebegleitung sein, demonstrieren Ela Gauch und Judith Schwieters an einer Handmassage mit Mandelöl. | Foto: Maria Kessing
Auch Aromaöle könnten eine gute Unterstützung in der Sterbebegleitung sein, demonstrieren Ela Gauch und Judith Schwieters an einer Handmassage mit Mandelöl. | Foto: Maria Kessing

„Ich bin hier, weil...“, zu Beginn berichten die Frauen und Männer über ihre Beweggründe für die Teilnahme an dem Kurs. Und sie sind sehr unterschiedlich. Manche haben gerade einen Angehörigen verloren, andere wollen für die Zukunft vorbereitet sein. Es dürfen auch Tränen fließen an diesem Nachmittag, an dem es immer wieder auch um persönliche Erfahrungen geht.

Der Nachmittag wird in vier Abschnitte gegliedert: 1. Sterben als Teil des Lebens; 2. Vorsorgen und entscheiden; 3. Leiden lindern; 4. Abschied nehmen. Angesichts einer immer älter werdenden Gesellschaft ist der Bedarf, Menschen Zuhause oder in Pflegeheimen zu versorgen, groß geworden. Viele möchten in ihrer vertrauten Umgebung sterben. Sorgende Gemeinschaften wie früher werden jedoch immer seltener. Zuwendung ist das, was Menschen am Ende ihres Lebens am meisten brauchen. Das kann jeder tun.

Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht

In dem Zusammenhang spielt der Begriff „Palliative Care“ eine Rolle. Was nichts anderes bedeutet als eine ganzheitliche Sorge im Fall einer lebensbedrohlichen Erkrankung, eine bestmögliche Lebensqualität im Sinne des Betroffenen (auch mit medikamentöser Unterstützung) und Fürsorge für die Angehörigen. Unterstützung leisten dabei die ambulanten und stationären Hospizdienste und die ambulante Palliativversorgung.

Auch Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht werden thematisiert. „Lassen Sie Tod und Sterben in Ihr Leben“, fordern die Kursleiterinnen dazu auf, rechtzeitig vorzubeugen für den Fall, dass man selbst nicht mehr in der Lage ist, für sich selbst zu entscheiden.

Sterben ist ganz individuell

Geburt und Sterben gehören zum Menschsein, es sind die zwei Ereignisse, die uns als Menschen verbinden, verdeutlichen die Kursleiterinnen. Die Natur habe für diese beiden Ereignisse vorgesorgt, mit einem physiologischen „Programm“. Sterben sei das „letzte Programm“ und ein ganz individueller Prozess. Manchmal brauche es etwas mehr Unterstützung. Während einige Menschen ruhig einschlafen und sterben können, sind andere unruhig und brauchen gegebenenfalls Medikamente gegen Schmerzen, Angst, Unruhe oder andere Beschwerden.

Körperlich, psychisch, sozial und spirituell: Leiden finde auf all diesen Ebenen gleichzeitig statt, verdeutlichte Ela Gauch. Mit einem kleinen Film wird verdeutlicht, was in den letzten Tagen und Stunden im Körper eines Menschen passiert. Kreislauf und Atem verändern sich. Der Puls wird schwächer, Arme, Hände und Beine sind kalt.

Einfach da sein!

Leiden lindern, das bedeutet vor allem: Einfach da sein! Aber: „Zu helfen ist wesentlicher einfacher, als Hilfe anzunehmen.“  Das wissen Teilnehmende auch aus eigener Erfahrung, wenn Hilfe zurückgewiesen wird. „Wenn Sie einen nahen Menschen begleiten, wissen Sie in der Regel sehr genau, was ihm guttut. Sie können nichts falsch machen“, rät Ela Gauch dazu, sich auf sein Bauchgefühl zu verlassen. Aber, nur wer für sich selbst gut sorge, könne auch gut für andere sorgen. Achtsamkeit für sich selbst sei deshalb ganz wichtig.

Letzte Hilfe kann aktiv sein, durch die Mundpflege zum Beispiel: „Kaffee, Tee, Rotwein, Cola oder auch Wasser – mit allem können Sie den Mund anfeuchten“, erklärt Judith Schwieters den Teilnehmern. Gerade beliebte Geschmäcker geben den Sterbenden noch einmal ein Gefühl von Geborgenheit. Einfach mit einem kleinen Schaumstoff-Lolli vorsichtig auf die Lippen geben. Das hilft vielen schon sehr, da gerade am Ende das Atmen schwerfällt und der Mund dadurch oft trocken ist. Auch Aromaöle könnten eine gute Unterstützung in der Sterbebegleitung sein, demonstrieren Ela Gauch und Judith Schwieters an einer Handmassage mit Mandelöl. Auf beruhigende Musik und einfühlsame Berührungen reagieren Sterbende, wenn sie zu schwach zum Sprechen sind.

Spirituelle Begleitung oft wichtig

Essen und Trinken werden am Ende oft als Belastung erfahren und nicht mehr als Genuss oder Freude. „Man hört auf zu essen und trinken, weil man stirbt. Man stirbt nicht, weil man aufhört, zu essen und zu trinken“, betont Ela Gauch. Wo Leib und Seele sich trennten, spiele Essen keine Rolle mehr. Eine einfache Wahrheit, die doch schwer zu akzeptieren ist.

Ein akuter Sterbeprozess kündigt sich häufig durch eine Unruhe an, als Zeichen dafür, dass der Abschied von der Erdenwelt bevorsteht, sagt Judith Schwieters. Menschen halten in ihrer allerletzten Lebenszeit oft Rückblick auf ihr Leben. Im Halbschlaf und in Form von monologhaften Gespräch ziehen sie Bilanz. Manche Menschen tun das in aller Stille, anderen hilft die Anteilnahme einer anderen Person. Für belastende Symptome im Sterbeprozess gibt es Medikamente wie Morphin und Midazolam, die bei Schmerzen, Angst und Luftnot Abhilfe schaffen. Für viele Menschen ist die spirituelle Begleitung durch Gebete oder durch die Krankensalbung wichtig und stärkt sie auf ihrem Weg.

Der Tod gehört dem Sterbenden

Ein weiterer Letzte-Hilfe-Kurs im Ambulanten Hospizzentrum in Hamm findet am 12. Mai 2023 von 9 bis 13 Uhr statt. Anmeldungen unter 02381/304400.

Und wenn er dann da ist, der Tod? Der Abschied ist sehr wichtig. Es ist die letzte Möglichkeit noch einmal etwas zu sagen, den Verstorbenen zu betrachten und zu berühren, eine Kerze anzuzünden, eine Blume in die Hand des Verstorben zu legen oder einen Geistlichen zur Aussegnung rufen. „Erlauben Sie sich, ihre Gefühle wahrzunehmen.“ Alles darf sein. Der Moment des Todes gehört dem Sterbenden. Es ist sein Moment des Überganges. Manchmal wird es uns geschenkt, dabei zu sein. „Es gibt in diesem Moment nichts zu tun. Nehmen Sie sich Zeit.“  Es ist etwas Besonderes bei der Verwandlung dabei zu sein, so Ela Gauch. Der Tote dürfe bis zu 36 Stunden zu Hause aufgebahrt werden, wenn es die Witterung zulasse.

Trauer habe viele Gesichter, wie den Mut zur individuellen Gestaltung der Bestattung. Rituale wie das Kaffeetrinken seien eine Hinwendung zum Leben, zu einem Neuanfang. Trauer sei die Fähigkeit, den Verlust eines ganz nahen Menschen zu überleben und ihm einen Platz im eigenen Leben zu geben. Es gebe keine richtige oder falsche Art zu trauern.

Am Ende wissen, wie es geht. Die Teilnehmenden des Kurses gehen nach vier Stunden mit vielen neuen Erkenntnissen und einer Teilnahmeurkunde auseinander. Einige haben an dem Nachmittag vielleicht zum ersten Mal befreit über den Tod gesprochen. Ganz zum Schluss wird es still, als das Lied von Purple Schulz „Der letzte Koffer“ erklingt. Die letzte Strophe heißt: „Begleite mich bis zu dem Moment, wo alles sich von allem trennt. Ich geh’ nur heim, mehr ist es nicht. Ich geh’ nur heim, mehr ist es nicht…“

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