„Ein friedvolles neues Jahr 2023“ - Teil 3

Tatiana Kryvsha aus Kiew: Im Krieg wird es schwer, nicht zu hassen

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„Ein friedvolles neues Jahr 2023“ – dieser Wunsch wird in diesen Tagen zigfach geäußert. Was oft nicht mehr als eine Floskel ist, bekommt durch den Krieg in der Ukraine eine enorm wichtige Bedeutung. Wir haben verschiedene Menschen aus der Ukraine gefragt, mit welchen Gefühlen sie auf das neue Jahr blicken. Tatiana Kryvsha ist aus Kiew nach Münster geflüchtet.

„Ich spüre Hass“, sagt sie. Keine Trauer, keine Wut, keine Angst. „Sondern richtigen Hass.“ Tatiana Kryvsha erschrickt selbst ein wenig vor diesem Gefühl. „So habe ich das noch nie gespürt.“ Die 48-Jährige hat Gründe dafür. Das, was sie seit dem Angriff der Russen auf ihr Heimatland erlebt hat, hat tiefe Spuren in ihrem Leben hinterlassen. Vor zwei Monaten wurde die Situation dann so unerträglich für sie, dass sie zu ihrer Tochter nach Münster-Hiltrup zog, die an der Musikhochschule studiert.

„Es sind nicht allein die vielen jungen Soldaten, die getötet oder verletzt werden“, sagt Kryvsha. Das Leiden der Menschen durch den Beschuss der Russen in allen Landesteilen ist immens. Das hat sie selbst erfahren. Immer mehr musste sie um das Notwendigste kämpfen. „Am Ende haben wir den ganzen Tag damit verbracht, unsere Grundbedürfnisse zu decken.“ Wärme, Essen, Wasser – der Krieg hat alle in ihrem Umfeld aus dem normalen Alltag gerissen. „Du funktionierst nur noch.“

Gesundheit aller leidet unter Krieg

Es gibt viele „Kollateralschäden“, wie sie es nennt. Nicht allein das Leben der Menschen an der Front ist bedroht. Auch die Raketen, die immer wieder in ihrer Heimatstadt Kiew einschlugen, meint sie damit nicht. Sondern die Gesundheit aller, die durch die Zerstörung der Infrastruktur betroffen sind. Das hat sie in ihrem direkten Umfeld erlebt. Sie war Direktorin einer Klinik für Onkologie. Durch den Krieg war eine Versorgung der Krebspatienten kaum noch möglich. Was das für viele Erkrankte und ihre Angehörige bedeutete, weiß sie nur gut. Sie selbst hat ihren Vater und ihren Mann durch den Krebs verloren.

„Das Schlimme ist, dass man ohnmächtig ist.“ Machtlos, der Gewalt und ihren Folgen ausgeliefert. Als ihr Patensohn von Gräueltaten an der Front berichtete, als sie selbst vor dem Beschuss der ukrainischen Hauptstadt in die umliegenden Wälder flüchtete, als sie die Todesanzeigen der gefallenen Soldaten in den Zeitungen las – all das waren Momente, die ihren Hass immer weiter auflodern ließen. „Ich kann mich ja nicht selbst wehren, ich kann nur das, was geschieht, verabscheuen.“

Hoffnungsvoller Blick fehlt

Ist damit auch alle Hoffnung auf Frieden utopisch? „Was für ein Frieden?“, fragt sie zurück. „Wenn die Kämpfe beendet werden, liegt unser Land noch viele Jahre am Boden“, sagt Kryvsha. „Was wir in 30 Jahren Unabhängigkeit aufbauen konnten, ist in wenigen Monaten zerstört worden.“

Sie tut sich deshalb schwer, einen hoffnungsvollen Blick in die Zukunft ihres Landes zu werfen. Auch weil sie selbst spürt, wie mächtig das Gefühl des Hasses wächst, wenn ein Krieg jegliche Vernunft und Menschlichkeit beendet.

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