THEMENWOCHE EINAMKEIT (5)

Vom Sinn der Sehnsucht, sich von allem zurückzuziehen

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Allein zu sein, ist fürchterlich. Und doch kennt die christliche Spiritualität die Einsamkeit auch als etwas sehr Heilsames. Was ist damit gemeint?

 

„Lasst mich doch einfach in Ruhe!“ Der Rückzug in die eigene kleine Höhle, in der das ganze Getose der Welt draußen bleibt mit ihren überhitzten Diskussionen, angstmachenden Gefahrenaufladungen, mit all ihrer Gewalt in Worten und Werken – wer sehnte sich nicht nach einem Ort ohne all das! Und immer mehr tun es: vermeiden Nachrichten, machen die Schotten dicht, ziehen sich zurück. Mitunter in nur vermeintlich heilere Welten.

Man muss das nicht nachvollziehen, man muss es nicht ebenso tun – aber die Sehnsucht danach, sich von all dem Schweren und Bedrängenden abzugrenzen, diese Sehnsucht nach freiwilliger Ausgrenzung oder, wohl treffender: Einhegung im eigensten Terrain, die dürfte in diesen Zeiten viele anrühren.

Einsamkeit als Lebensform

Eine solche freie Flucht in die Isolation ist freilich etwas anderes als das bedrängende Schicksal, unfreiwillig allein zu sein, menschlicher Nähe zu entbehren, im Verlust jeglicher Gefährten zu durchs Leben und in solcher auferlegten Verschlossenheit ausharren zu müssen, nur noch sich zu haben – ohne Ausweg.

Und doch heiligt die christliche Spiritualität die Einsamkeit auch, würdigt sie sogar als Lebensform, allemal als dann und wann wahrzunehmende Übung. Sie kennt die Wüstenväter aus der frühen Zeit der Kirche und die Eremiten, die es hier und da noch heute gibt. Sie kennt Wüstenzeiten und Momente ärgsten Verlusts: Von Jesus selbst heißt es, er sei 40 Tage in die Wüste mit all ihren Verführungen und Anfeindungen geführt worden und schrie in ärgster Todesnot seinen Gott um einen Sinn dieser düstersten Gottesverlassenheit an.

Innigste Gotteserfahrung

Themenwoche Einsamkeit
In dieser aktuellen Themenwoche stehen einsame Menschen im Zentrum. Wir erzählen die Geschichte eines Menschen, geben einen Überblick über Zahlen und Fakten zu Einsamkeit, zeigen an Beispielen, wie kirchliche Einrichtungen Angebote für Alleinstehende machen. Wir geben Tipps für Betroffene und Angehörige. Und erläutern mit einem Blick in die Spiritualität, wie Einsamkeit sogar einen guten Kern haben kann.

Einsamkeit, christlich verstanden, rührt zwar auch an die Möglichkeit, dass es Gott nicht gibt, ruft diese Frage insofern zutiefst auf, als dieser Gott doch von sich sagt, bei uns zu sein zu aller Zeit. Vor allem aber ist die Einsamkeit doch der Ort, wo sich Gott am innigsten erfahren lässt. Es ist ein wenig wie die Erfahrung, in einem Kunstmuseum vor einem Gemälde zu stehen: nur ich und das Bild. Da öffnen sich neue Welten in mir und öffnen meine Gedanken, mein Allein-vor-dem-Bild-Stehen weit über den Bildersaal hinaus. Es rührt etwas tief in mir an, spricht mich schweigend an und schafft eine merkwürdige Gemeinschaft, Verbündetheit, Bezogenheit. Da, wo mich dieser Anspruch trifft – da ist der Kern der Einsamkeit: Ich selbst.

Rainer Maria Rilke, der Tiefendichter, entwirft ein beinahe abstruses Bild von Wüste und Einsamkeit, in dem Mensch und Kunst zu ihrem eigensten Sinn kommen: In seinem Roman „Die Aufzeichnungen des Maltes Laurids Brigge“ lässt er einen tauben Musiker inmitten der Wüste musizieren, den Gehörlosen also bar jeder Zugehörigkeit und Hörerschaft: „… dass man dir ein Hammerklavier erbaut hätte in der Thebais; und ein Engel hätte dich hingeführt vor das einsame Instrument. … Und dann hättest du ausgeströmt, Strömender, ungehört; an das All zurückgebend, was nur das All erträgt“. Gemeint ist womöglich Ludwig van Beethoven, denn Rilke spricht von besagtem, in der weiten, fernen Freiheit der Wüste ausgesetzten Pianisten als einem, „dem ein Gott das Gehör verschlossen hat, damit es keine Klänge gäbe, außer seinen. Damit er nicht beirrt würde durch das Trübe und Hinfällige der Geräusche.“

Rilkes Gott

Und auch wenn Rilkes Gott nicht vorschnell mit dem Gott der Religionen gleichgesetzt werden darf, so sagt der Dichter uns doch viel über Gott. Im „Stundenbuch“ etwa sehnt er sich: „Wenn es nur einmal so ganz stille wäre. / Wenn das Zufällige und Ungefähre / verstummte und das nachbarliche Lachen, / wenn das Geräusch, das meine Sinne machen, / mich nicht so sehr verhinderte am Wachen …“ Und nennt bald darauf „Gott“ im Blick auf einen solchen stillen Menschen den „Zweiten seiner Einsamkeit / die ruhige Mitte seinen Monologen“.

Ganz gleich, ob Dichter oder Mönch: Ist eine solche Flucht in die Einsamkeit vor der Wirklichkeit, vor der Welt, erlaubt, angebracht, gar sinnvoll? Wäre es nicht evangeliumsgemäßer, sich für eine bessere Welt zu engagieren, am Reich Gottes durch Werke der Nächstenliebe und Gerechtigkeit mitzubauen?

Spuren Gottes im Alltag

„Mich hat die Sehnsucht ins Kloster geführt, Welt und Wirklichkeit tiefer zu verstehen“, bekannte jüngst der Abt der Benediktiner von Königsmünster, Cosmas Hoffmann, in einem Interview. „Dazu gehört aber in gewisser Weise, das Oberflächliche von Welt hinter sich zu lassen.“ Zu glauben bedeutet für ihn, „den tieferen Grund von Wirklichkeit wahrzunehmen“.

So kommt er zu einem Schluss, der ahnen lässt, warum und wie die Einsamkeit in diesem Sinn ein hohes Gut sein kann: „Also nicht Weltflucht, sondern Welttiefe suchen. Die Spuren Gottes in meinem Alltag zu entdecken“, sagt Abt Cosmas. Und über den Sinn des Mönchseins, des Lebens in der Abgeschlossenheit, oder besser: Abgegrenztheit des Klosters mit seinem Wechsel von Einsamkeit und Gemeinschaft, von Mönchszelle und Weltoffenheit sagt er: „Wir haben die Aufgabe, Spurenleser zu sein. Zunächst für uns und dann auch unterstützend für und mit anderen.“

 

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