Lexikon des Judentums (18)

Tod und Sterben im Judentum

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Wissen ist das beste Mittel gegen Vorurteile und Antisemitismus. Zum Jubiläum „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ erläutert diese Serie Begriffe jüdischen Glaubens – diesmal von Tamar A. Avraham, jüdische Theologin, Expertin für Religionswissenschaft und Reiseleiterin. Sie lebt in Jerusalem.

Das rabbinische Judentum hat den – in der Hebräischen Bibel keineswegs eindeutig bezeugten – Glauben an die Auferstehung der Toten und die kommende Welt übernommen. Dennoch ist der Tod eine einschneidende Zäsur. Rabbinische Erzählungen beschreiben, wie große Gestalten wie Mose und David mit allen Mitteln versuchen, solange wie möglich dem Tod zu entgehen.

Am erfolgreichsten halten Torastudium und Gebet den Todes­engel auf. Daran wird deutlich, warum der Tod als so schrecklich empfunden wird: Ein Toter kann nicht mehr nach der Tora leben, seine Bestimmung nicht mehr erfüllen.

 

Das Gebet und der Tod

 

Als Zeichen dafür wird der Tote in seinem Tallit (Gebetsmantel) bestattet – aber die Gebetsfäden an den vier Enden, das eigentliche Gebot, umdessentwillen der Tallit getragen wird, sind abgeschnitten, denn der Tote ist nicht mehr zur Einhaltung der Gebote verpflichtet. Dass dies keineswegs als eine Erleichterung, sondern als ein Verlust empfunden wird, zeigt sich an dem Verbot, einen Friedhof geschmückt mit Tefillin (Gebetsriemen) zu betreten: Der Lebende soll die Erfüllung dieses Gebotes nicht vor den Toten demonstrieren und sie damit in ihrer Unfähigkeit, Gebote zu erfüllen, verspotten.

So ernst wird der Gedanke genommen, dass die Tora ein Weg des Lebens und nicht des Todes ist. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch, warum die Unreinheit des Toten als die schwerstwiegende aller Unreinheiten gilt, die, solange der Tempel noch stand, jedem, der mit einem Toten in Kontakt gekommen war, das Betreten des Heiligtums und das Berühren geweihter Speisen verbot, solange er sich nicht einem komplizierten Reinigungsritus, der in Num 19 beschrieben wird, unterzogen hatte.

 

Wichtige Sorge um die Verstorbenen

 

Heute noch vermeiden Kohanim (Priester), denen der Tempeldienst zukommen würde, das Betreten von Friedhöfen, oder es werden für sie besondere, von den Gräbern getrennte Wege angelegt. Im Heiligen offenbart sich der lebendige Gott, und darum wird ihm alles, was mit Tod zu tun hat, ferngehalten.

Andererseits: Die Sorge um den Toten und seine ehrenhafte Bestattung ist eines der wichtigsten Gebote der Wohltätigkeit, in gewissem Sinn sogar das wichtigste, denn es wird aus reiner Nächstenliebe ausgeübt, da der Tote sich ja nicht mehr revanchieren kann. In den meisten jüdischen Gemeinden, die sich in Deutschland entwickelten, war der Friedhof die erste Institution, die geschaffen wurde, lange vor einer Synagoge oder Schule.

 

Der Tote als hilfsbedürftiger Mitmensch

 

Die Chewra Kaddischa, die Beerdigungsgesellschaft, war fast immer der erste Verein, der in der Gemeinde gegründet wurde. Alle erwachsenen Gemeindemitglieder traten ihm bei, um reihum die Pflichten an den Verstorbenen zu erfüllen.

Wer auf freiem Feld einen unbekannten Toten findet, soll alles andere, auch die Erfüllung anderer Gebote, stehen und liegen lassen, um zuerst den ohne Angehörige daliegenden Toten zu bestatten. Bei allem Erschrecken vor dem Tod: Der Tote bleibt der hilfsbedürftige Mitmensch, dem man sich nicht entziehen darf.

Die Autorin
Tamar A. Avraham ist Theologin mit Zusatzstudien in Judaistik, Islamwissenschaft und Vergleichender Religionswissenschaft. Die Übersetzerin und Reiseleiterin lebt in Jerusalem.
Tamar A. Avraham ist Theologin mit Zusatzstudien in Judaistik, Islamwissenschaft und Vergleichender Religionswissenschaft. Die Übersetzerin und Reiseleiterin lebt in Jerusalem.

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