SICHTWEISEN

Totenhalle

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Ein graues Gebäude liegt am Stadtrand von Berlin. Ein sakraler Raum – ohne jede Religion. Unmöglich, der größten Frage zu entkommen: dem Tod.

Da sitze ich also im düsteren Saal aus Säulen. Sitze da, die Beine von mir gestreckt, damit ich meine Füße fotografieren kann, um ein Bild davon zu haben, dass ich hier war. Ich der Lebende in der Totenhalle. Ich der Sitzende in diesem Raum, in dem die Zeit zu stehen scheint. Ich der Wandernde, der wieder gehen kann, einigermaßen unbeschwert ins Leben da draußen. 

Während die meisten, die hierherkommen, Verlassene und Verlustige, Beraubte und zugleich Beschwerte sind, wenn sie wieder gehen. Wieder gehen müssen und nicht wissen, ob sie zurückfinden in das Leben. Weil sie einen Lieben, eine Liebe zurücklassen, das Liebste gar, das sie hatten und einander waren. Und das nicht mehr ist. Nicht mehr als Asche und Staub. Und Erinnerung. Gute, wenn es gut ging, damals.

20 Meter Grabstein

SICHTWEISEN
Ein Wort, ein Bild, ein Gedanke – das sind die „Sichtweisen“, die einmal in der Woche ins Nachdenken bringen wollen, Welten eröffnen, Leben entdecken, Gott suchen helfen. Menschenlebensnah und gottverbunden. Jeder Monat wird von einer Autorin oder einem Autoren textlich gestaltet; die Redaktion von Kirche+Leben sucht zu dem jeweiligen Stichwort frei ein Foto.

Diese Totenhalle ist nicht irgendeine. Sie ist der oberste Stock eines 20 Meter hohen Grabsteins, eines Quaders von 50 mal 70 Metern gegossenem Beton. Was hier oben im Reich der Lebenden sich zehn Meter der Sonne entgegenstreckt, gründet auf dem, was nach unten zehn Meter ins Reich der Finsternis hinabreicht: das Krematorium Baumschulenweg in Berlin-Treptow, vor 25 Jahren fertiggestellt nach Plänen von Axel Schultes Architekten. Wenig später dachten sie sich das Bundeskanzleramt aus. Wenn man das weiß, kann man es sehen.

Nun also diese Totenhalle. Im Feuer der Unterwelt werden die Verstorbenen verbrannt, in der Oberwelt rund um eine kleine Mitte aus Wasser würdig verabschiedet. Dem dienen drei Räume für 50 und bis zu 250 Trauernde. Dort geht der Blick hinaus in baumreiche Natur, zum Himmel über Berlin. Eine Öffnung, eine Perspektive, dem einen Balsam für die lebenssehnende Seele, der anderen Sinnlandschaft für den Glaubenstrost der Auferstehung.

Der Tod an sich

Die Halle aber ist weiter und wirkt, so modern und immer noch neu sie ist, in ihren kalten Grauflächen und weißen Lichtringen ganz oben so archaisch und still und selbstbewusst, wie der Tod nun einmal ist, wenn man sich traut, ihn pur und nüchtern und in aller jede und jeden im Kern anfassenden Wucht wahrzunehmen, zu erspüren, an sich heranzulassen. Noch ohne jeden Trost, jeden Erklärungsversuch, jede religiöse Deutung und Erlösung. Der Tod an sich.

Tatsächlich ragt die Idee dieses Raumes weit weg und zurück, in die Welt der alten Ägypter und ihrer Tempel, zugleich in die Vorstellung eines „campo stella“, eines Sternenfeldes. Ein sakraler Raum, zweifellos, doch ohne jede in Religion geronnene Beheimatung.

Säulen, Sand und Wasser

Eine Grabkammer, zweifellos. Wären nicht die Verabschiedungsräume, deren Öffnungen ins Außen auch in der Halle zu ahnen sind, man müsste nach oben blicken, um Licht zu erhaschen, als stierte man aus einer frisch ausgehobenen Grube. 29 Betonsäulen aus Beton ragen hinauf, umkränzt von feinen Kronreifen aus Sonnenlicht. An den Seitenwänden rund ein Dutzend knapp zwei Meter breite, rechteckige Schächte, die zu Füßen in Kästen voll mit hellem Sand münden, wie das Leben zwischen den Fingern aus der Hand entronnen. 

Ein nahezu regungsloser Raum für wehende Seelen. Mittendrin ein kreisrundes, flaches, spiegelndes Bassin, aus dem Wasser sachte überläuft, ein seichtes, immerwährendes Schwappen. Darüber schwebt an ewiglanger Schnur bewegungslos ein Ei. Ein Hauch nur genügte … Wer gibt den Impuls? 

Schwere und Erleichterung

„Die Menschen sterben und sie sind nicht glücklich“, schreiben die Architekten. Und: „Daran kann auch Architektur nichts ändern. Einen Ort der Ruhe, einen Raum der Stille bereithalten, das vermag sie aber auch heute noch.“ Darum gehe es: „einen Ort herzustellen, der das Vergängliche und das Endgültige ausbalanciert, das Schwere deutlich und Erleichterung möglich macht."

Keiner Religion gibt der Ort den Vorzug, will vielmehr auch ganz ohne Religion voll Sinn sein. Darin also sitze ich, die Beine von mir gestreckt. Ich der Lebende in diesem Totentempel. Ich der Wandernde unterm Sternenfeld, dem der Glaube sich irgendwie unter die Füße geschoben hat. Hier aber ganz und gar nicht mit Antworten auf den Knien, sprungbereit zu erhellender Erklärung, zu deutender Erläuterung. Sondern der weit vor irgendeiner noch so sicher geglaubten Erlösung von der Endgültigkeit des Todes ergriffen wird. 

Der erst später, draußen, beim Gang durch die Baumallee die Strahlen der Sonne spürt. Und unbändig fein rundum und drinnen: das Leben.

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