So machtlos fühlt sich eine Frau in der Corona-Pandemie

Ungewollt ungeimpft, vergessen und ignoriert - eine Schwerkranke erzählt

  • Eine Schwerkranke aus dem Münsterland kann sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen. Sie fühlt sich in ihrer Situation von der Gesellschaft vergessen.
  • Den Impfverweigerern steht sie fassungslos gegenüber. Sie fühlt sich ignoriert und machtlos.
  • Besonders die Teilnahme am Leben der Pfarrgemeinde fehlt ihr seit fast zwei Jahren. Wer sich aus Egoismus nicht impfen lassen will, trägt für sie an dieser Situation Mitschuld.

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Ihr Lebensraum ist auf die Größe ihrer Wohnung geschrumpft. Und das seit mehr als 20 Monaten. Renate Koch (Name von der Redaktion geändert) musste sich in ihre vier Wände zurückziehen. Da gab es keine andere Wahl. Mit ihrer Auto-Immun-Erkrankung, die auch die Funktion vieler Organe beeinträchtigt, steht sie an der Spitze besonders gefährdeter Menschen in der Corona-Pandemie. Hoffnung auf Besserung für diese Situation gibt es für sie seit Jahrzehnten nicht. Zudem verhindert die Krankheit jetzt, dass sie sich impfen lassen kann.

„Ich kann mich noch genau erinnern, als ich das letzte Mal im Supermarkt war“, sagt die 47-Jährige aus einem Dorf im Münsterland. „Es war ein Dienstagabend im März 2020.“ Ab da mied sie Begegnungen mit fremden Menschen, öffentliche Räume, auch Spaziergänge vor ihrer Haustür. „Die Gefahr, mich zu infizieren, ist viel zu groß – und es wäre mein Todesurteil.“

Sie verlangt ihrer Familie viel ab

Allein die Fahrt mit dem Auto hinaus zu ihren Eltern, die abgelegen auf dem Land wohnen, hat sie sich in Zeiten niedriger Infektionszahlen gegönnt. „Sie leben fast autark, mit eigener Landwirtschaft.“ Auch dort aber galt große Vorsicht – Abstand, Masken, strenge Hygiene. Ganz ohne ihre Eltern und den jüngeren Bruder hätte sie es aber nicht geschafft, sich zu verpflegen und den Alltag zu meistern. Koch weiß, was sie ihnen damit abverlangt. „Meine Mutter muss wegen der Kontakte zu mir auf ihre Kegelabende verzichten.“

Für die sonst kontaktfreudige Frau, die bis zu ihrer Erkrankung im Jahr 2005 im kirchlichen Dienst gearbeitet hat, ist das schwer zu ertragen. „Gemeinschaft ist mein Leben“, sagt Koch. Sie ist ehrenamtlich in der Pfarrgemeinde aktiv, engagiert sich in Hilfsprojekten, singt in einem Chor der Gemeinde. Das alles hat die Pandemie ausgebremst. Und während sich in den Phasen zwischen den Infektionswellen die Situation für viele Menschen normalisierte, blieb sie für Koch durchgehend dramatisch. „Einmal habe ich vom Pfarrgarten aus den Chorproben im Pfarrheim gelauscht.“

Werktagsgottesdienste in der letzten Bank

Auf eins kann sie nicht verzichten, sagt Koch. Sie besucht die Werktagsgottesdienste in den Kirchen ihrer Pfarrei. Die heiligen Messen am Wochenende mit den vielen Besuchern kommen nicht in Frage. Und auch bei den Morgen- und Abendgottesdiensten an den Wochentagen agiert sie weiter vorsichtig. „Ich komme eine Minute nach Beginn und suche den Platz, der am weitesten von den anderen Menschen entfernt ist.“ Die Maske behält sie auf. Eine Minute bevor der Gottesdienst endet, verlässt sie die Kirche.

„Ungewollt ungeimpft“, nennt sie ihre Situation. „Das ist eine Gruppe, für die es in der Pandemie keine Lobby gibt.“ Sie belegt das mit einem derzeit häufig genutzten Nebensatz, in dem sich ihr Schicksal widerspiegelt: „…außer aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen können…“. „Wir werden in die Statistiken einsortiert – unsere Situation nimmt aber kaum jemand ernsthaft in den Blick.“

Es fehlt Empathie

Kochs Worte klingen bitter. Denn in diesen Monaten erlebt sie mit großer Wucht, was sie seit ihrer Verrentung begleitet. „Die meisten Menschen pochen so auf ihre persönliche Freiheit, dass sie den Nächsten nicht mehr wahrnehmen können.“ In der Pandemie spitzt sich das für sie zu. „Nur wenige begreifen, dass der Gegenspieler zur absoluten Freiheit die Verantwortung für die Gemeinschaft ist.“ Sie hat in der Pandemie viel Ignoranz erlebt. Zu einer guten Freundin, die die Pandemie standhaft leugnete, hat sie den Kontakt abgebrochen.

Es wird sich kein Impfverweigerer oder -gegner von allein bewegen, wenn er nicht die Not anderer mitfühlen kann. Das sagt Koch mit großer Überzeugung. „Es fehlt oft die Empathie dafür, was das eigene Handeln für die Menschen bedeutet, die leiden.“ Ihre Begründung klingt schroff und lässt ihr Ringen mit den Argumenten der anderen Seite erahnen: „Sie müssen es am eigenen Leib erfahren, Tote sehen, das Elend selbst spüren – nur wer persönlich betroffen ist, wird sich bewegen.“

Lebensradius geht gen Null

Sie sagt das mit jener Machtlosigkeit in der Stimme, die sie fühlt. Wenn in den kommenden Wochen wieder Operationen für sie anstehen, kollidiert ihre Lage vehement mit dieser Ignoranz. „In welchem Krankenhaus dafür noch Kapazität sein wird, weiß ich nicht.“ Ob die schmerzlindernden und ihren Krankheitsverlauf mildernden Eingriffe überhaupt zeitnah stattfinden können, ist ohnehin fraglich. „Nicht notwendige Operationen werden verschoben“, heißt der offizielle Wortlaut. „Was für mich notwendig ist oder nicht, entscheidet dann jemand anderes – nicht ich.“

Ihre Schmerzen sind nicht nur physisch – auch ihre Seele leidet. „Für mich wird das Leben in den kommenden Wochen wieder komplett runtergefahren“, sagt Koch. Ihre geliebten Gottesdienstbesuche fallen derzeit völlig weg. Den Kontakt zur Familie wird sie bis auf das Allernötigste reduzieren. Frische Luft wird es nur geben, wenn spät abends das Leben von den Straßen verschwunden ist. „Mein Aktionsradius wird wieder gen Null gehen.“

Kleine Gesten gewinnen an Bedeutung

Dann werden wieder die kleinen Momente große Bedeutung bekommen. Die gibt es. Sie schafft sie sich selbst oder bekommt sie geschenkt. Die Nachbarin steht oft am Fenster und winkt ihr zu. Der Kaplan bringt ihr die heilige Kommunion – mit Maske, desinfizierten Händen und über einen Teller als Zwischenstation, um einen großen Abstand einhalten zu können. Über das Internet hält sie Kontakt in alle Welt. Zu Menschen, die sie kennen. Die wissen, was sie gerade durchmacht. Die mitfühlen.

Mit Wehmut blickt sie aber auf die anstehende Advents- und Weihnachtszeit. Jene Wochen, die ihr als tiefgläubiger Mensch immer spirituelle Höhepunkte bringen. Aber in die Gottesdienste wird sie „auf keinen Fall“ gehen können, sagt sie. Schon mit Zulassungseinschränkungen wäre ihr die volle Kirche ein zu großes Risiko. Ganz ohne 3G-Regeln kommt das für sie überhaupt nicht in Frage.

Nächstenliebe als Gegenargument

Umso mehr schaut sie kopfschüttelnd auf jene Szene, die das Impfen immer noch aus religiösen Gründen ablehnt, die Pandemie leugnen, gegen Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionen mobil machen. Sie kennt die Argumentationen dieser Gruppe gut, verfolgt ihre Beweggründe in den sozialen Netzwerken. „Dabei kann es für einen Christen doch nur einen Grund geben, der alle anderen entkräftet“, sagt Koch: „Nächstenliebe.“

Ist nicht spätestens jetzt der Zeitpunkt, wütend zu werden? Bei dieser Frage zögert sie kurz. „Nein, das würde zu viel Kraft kosten.“ Die braucht sie derzeit mehr denn je. Zorn würde auch nicht zu ihr passen. Bei dem Lebensmut, den sie aufbringt. „Den ich aufbringen muss.“ Über 100 Mal wurde sie schon operiert, hat in der Summe mehr als zehn Jahre in Krankenhäusern und Reha-Kliniken verbracht, lag im Koma, hat nur noch einen Lungenflügel. „Das ist mehr als jede Katze mit ihren sieben Leben verbrauchen kann.“

Sie will weiter stark sein und kämpfen

Sie lacht, wenn sie so etwas sagt. Trotzdem, trotz aller Not und Ungerechtigkeit, die sie gerade erlebt. Dann hebt sie die Hand und macht eine Faust: „Schacka!“ Auch die kommenden Wochen wird sie wieder meistern. Sie wird viel basteln, Briefe schreiben und jeden Tag per Internet und Radio an Gottesdiensten teilnehmen. Und vielleicht, „ganz vielleicht“, gibt es irgendwann einen Impfstoff gegen Covid-19, den auch sie verträgt. Bis dahin ist sie darauf angewiesen, dass andere ihre Situation verstehen lernen, ihre Ignoranz ablegen und sich impfen lassen.

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