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Seit Jahren soll die evangelische Kirche von Betroffenen gewusst haben. Die EKD-Ratsvorsitzende Kurschus war daraufhin zurückgetreten.
Schwere Fehler im Umgang mit sexualisierter Gewalt: Die evangelische westfälische Landeskirche soll laut einer unabhängigen Untersuchung bereits in den 1990er Jahren von Missbrauchsfällen im Kirchenkreis Siegen-Wittgenstein in Südwestfalen gewusst haben. Eine Überprüfung oder Meldung der Vorfälle habe es aber nicht gegeben. Zu diesem Schluss kommt die Unternehmensberatung Deloitte bei der Überprüfung von Vorwürfen gegen einen ehemaligen Kirchenmusiker, der über Jahre teils minderjährige Schüler sexuell missbraucht haben soll.
Die Ergebnisse wurden im Auftrag der Landeskirche am Dienstag in Siegen vorgestellt. Vor eineinhalb Jahren bereits war wegen dieses Falls die damalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus, zurückgetreten. Die Untersuchung legt nahe, dass auch sie frühzeitig von den Vorfällen gewusst haben könnte. Deloitte regte eine juristische Überprüfung des Sachverhalts an.
Kurschus-Rücktritt wegen Vertuschungsvorwürfen
Kurschus war am 20. November 2023 als EKD-Ratsvorsitzende und westfälische Präses zurückgetreten. Ihr wird vorgeworfen, als Gemeindepfarrerin im Raum Siegen bereits Ende der 1990er Jahre über die Vorwürfe sexuellen Fehlverhaltens informiert gewesen zu sein. Diese habe sie aber nicht gemeldet. Kurschus wies die Darstellung zurück, legte aber mit Hinweis auf die öffentliche Debatte ihre Ämter nieder. Laut Deloitte war sie damals zwar nicht die Dienstvorgesetzte des Beschuldigten, allerdings eine enge Freundin von dessen Ehefrau.
Die leitenden Geistlichen von Landeskirche und Kirchenkreis, der Theologische Vizepräsident Ulf Schlüter und Superintendentin Kerstin Grünert, räumten ein Versagen der Kirche über Jahre ein: „Die Evangelische Kirche von Westfalen benennt und bekennt dieses Versagen gegenüber den Betroffenen und der Öffentlichkeit“, betonte Schlüter. Die Landeskirche werde Konsequenzen ziehen, mögliche Pflichtverstöße prüfen und ihre Verfahren zur Prävention und Intervention bei sexualisierter Gewalt weiter verändern und verbessern.
Juristische Prüfung der kircheninternen Aufarbeitung
Zur bisherigen Aufarbeitung erklärte Deloitte, dass die zuständige Gemeindepfarrerin die damalige Präses Kurschus 2022 von den Vorwürfen unterrichtet habe. Diese habe dann die damalige Beauftragte im Umgang mit Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung und den Ortsdezernenten des Kirchenkreises informiert. Im Frühjahr 2023 seien die Meldestelle und der gesamte Vorstand der Landeskirche in Kenntnis gesetzt worden. In Folge eines internen Konfliktes im Landeskirchenamt sei dann ein externer Berater mit der Aufklärung beauftragt worden – allerdings ohne Einhaltung der vorgesehenen Prozesse.
Kurschus und die Landeskirche hätten sich zudem für eine passive Kommunikation entschieden, was zu hohem medialen Druck und fehlendem Rückhalt in der Kirche geführt habe. Nach dem Rücktritt von Kurschus hatte die Landeskirche dann zur transparenten Aufklärung die Studie bei Deloitte beauftragt. Die Unternehmensberater regten auch für die kircheninterne Aufarbeitung der Vorfälle eine juristische Prüfung an.
Vorwürfe von sieben Betroffenen
Laut Untersuchung gibt es in dem Fall Vorwürfe von sieben Betroffenen zwischen den 1980er Jahren und 2022. Dabei handle es sich um ehemalige Orgelschüler des Beschuldigten. Dieser habe in Gesprächen sexuelle Kontakte zu zwei Betroffenen eingeräumt, Handlungen in weiteren Fällen aber bestritten. Dem stünden die Erkenntnisse der Untersuchung entgegen. Ob die Betroffenen zu den Tatzeitpunkten minderjährig waren, sei unklar. Zudem gebe es Anhaltspunkte für weitere Annäherungen und sexuelle Handlungen im Kreise der Betroffenen.