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Am 2. März öffnet der Vatikan seine Archive zu Pius XII. (1939-1958). Der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf ist einer der Ersten, die das Material sichten. Im Interview äußert er sich über mögliche Überraschungen.
Am 2. März öffnet der Vatikan seine Archive zu Pius XII. (1939-1958). Zu dessen Rolle im Zweiten Weltkrieg und angesichts des Holocausts erwartet nicht nur die Forschung neue Erkenntnisse. Der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf und sein Team gehören zu den Ersten, die das neue Material sichten. Im Interview äußert sich Wolf über falsche Erwartungen und mögliche Überraschungen.
Herr Professor Wolf, Sie reisen mit sieben Leuten nach Rom. Wie gehen Sie Ihre Arbeit an?
Zunächst versuchen wir uns klarzumachen, nach welchem System die Akten unter Pius XII. geordnet wurden. Haben sich im Vergleich zum Pontifikat Pius' XI. die Ablageprinzipien, die wir sehr genau kennen, geändert? Da Pius XII. die meiste Zeit ohne Staatssekretär regierte, könnte das der Fall sein. Das nimmt sicher etwas Zeit in Anspruch. Anschließend wissen wir aber hoffentlich, welche unserer Fragen wir mit welchen Beständen beantworten können.
Wie sähe so eine Frage aus?
Hubert Wolf lehrt Kirchengeschichte in Münster. Mehrere Bücher des Theologen standen auf den Bestseller-Listen. Wolff wurde 2003 mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnet. | Foto: Michael Bönte
Ein Beispiel: Was kommt aus der Nuntiatur in der Schweiz? Wie und von wem wird die Botschaft des Papstes in einem neutralen Land benutzt? Wenn ein Nuntius etwas schreibt, müssen wir aus dem Apostolischen Archiv ins Archiv des Staatssekretariats hinüber, in dem die Korrespondenz mit den Nuntiaturen liegt. Und wenn jemand fordert, Hitler zu exkommunizieren, müssen wir ins Archiv der Glaubenskongregation. Kommen amerikanische Kirchenleute ins Spiel, müssen wir für die damalige Zeit ins Archiv der Propaganda Fide, der heutigen Kongregation für die Evangelisierung der Völker [Missionskongregation, d. Red.]. Als Team werden wir uns aufteilen und abends über das austauschen, was wir gefunden haben.
Was sind Ihre Schwerpunkte?
Unser erstes Ziel, für das wir von der Stiftung Alfried Krupp von Bohlen und Halbach sowie der Deutschen Bischofskonferenz Drittmittel erhalten haben, ist eine Annäherung an das Thema „Pius XII. und der Holocaust“. Wie viel Material gibt es? Ist es inhaltlich so relevant, dass sich daraus etwa ein gemeinsames Projekt mit der Jüdischen Hochschule in Heidelberg machen lässt? So ein Thema würde ich gerne gemeinsam mit jüdischen Kolleginnen und Kollegen angehen. Einerseits braucht man die richtigen Quellen; andererseits müssen diese interpretiert werden - was durchaus kontrovers geschehen kann. Dazu würde ich die einschlägigen Quellen gerne für alle zugänglich online veröffentlichen. Denn hier geht es zunächst einmal um eine Dienstleistung.
In die knapp 20 Jahre des Pius-Pontifikats fallen Weltkrieg und Holocaust, aber das ist nicht alles. Wo erwarten Sie weitere Erkenntnisse?
Über das Verhältnis von Pius XII. zu den Amerikanern. Er war, was viele vergessen, schon als Staatssekretär in den USA, hat Netzwerke geknüpft, Joseph Kennedy getroffen, den Vater des späteren Präsidenten. Welche Rolle spielen diese US-amerikanischen Netzwerke im Krieg und vor allem danach? Wie ist es mit der europäischen Einigung? Wir wissen, dass Konrad Adenauer, Robert Schuman und Alcide De Gasperi Audienzen beim Papst hatten, jene drei, die das begründeten, woraus die Europäische Union entstanden ist. Und welche Rolle spielt Pius XII. bei der Gründung der überkonfessionellen Christlich-Demokratischen Union, in der Katholiken mit den „häretischen“ Protestanten zusammenarbeiten?
Wo könnte es Überraschungen geben?
Dem Thema Islam gebe ich richtig große Chancen. Wir wissen schon, dass am Ende des Pontifikats von Pius XI. grundlegende Überlegungen angestellt wurden: Brauchen wir den Islam, eine monotheistische Weltreligion, als Partner gegen Kommunismus, Nationalismus, Liberalismus? Oder ist er mit katholischem Denken nicht zu vereinbaren? Weiter: Was schrieb der vatikanische Gesandte, der deutschstämmige US-Bischof Aloysius Muench, über die Lage in Deutschland, etwa zum Thema Kriegsschuld? Warum macht der Papst im ersten Konsistorium 1946 drei Deutsche zu Kardinälen: Galen, Frings und Preysing? Wie verhält er sich zur Gründung des Staates Israel? Warum wird dieser vom Heiligen Stuhl erst 1994 unter Johannes Paul II. anerkannt?
Was sind die wichtigsten Archive, um Funde im Vatikan gegenzurecherchieren?
Zur Holocaust-Thematik sind die meisten Archivbestände in Deutschland, USA und Großbritannien zum großen Teil ausgewertet. Aber nehmen Sie die sogenannte Rattenlinie, mit der Nazis nach Südamerika gelangten: Hier sind viele Archive immer noch nicht umfassend berücksichtigt.
Warum nicht?
In Argentinien ist das Material angeblich nicht da. Aber es gab dort einen Nuntius, und dessen Berichte werden jetzt erst zugänglich. Was wusste dieser von den Vorgängen? Einen Pass konnte der Vatikan eventuell noch besorgen. Doch ein Mann wie Mengele durfte in Argentinien nur einreisen, wenn er ein Visum erhielt. Also musste die Regierung in Buenos Aires mitspielen. War der Nuntius dabei der Mittelsmann? Oder lief das ganze über die argentinische Botschaft in Rom? Wir stellen offene Fragen - und müssen mit allen Antworten rechnen.
Die Kontroverse um Pius' Haltung zur Judenvernichtung begann erst 1963 mit Rolf Hochhuths Theaterstück „Der Stellvertreter“. Laut Pater Peter Gumpel, der eine erste Historikerkommission mit jüdischen und katholischen Mitgliedern moderierte, ist Hochhuth „wissenschaftlich erledigt“. Stimmt das?
Streng gesehen hat Pater Gumpel natürlich Recht. Denn das, was Hochhuth macht, ist eine Fiktion. Dennoch ist er wissenschaftlich nicht erledigt, weil jeder Historiker, der sich mit Pius XII. beschäftigt, gar nicht anders kann, als sich mit Hochhuths Thesen auseinanderzusetzen.
Wie geht es Ihnen selbst in der Debatte um die Rolle Pius' XII.?
Ich habe mehrfach mit Holocaust-Überlebenden gesprochen. Wenn mir dabei bald 90-Jährige sagen: „Sorgen Sie dafür, dass wir erfahren, warum der Papst nicht laut protestierte“, und man gibt einer solchen Persönlichkeit die Hand, dann ist das ein moralisches Versprechen, saubere Arbeit zu machen.
Wann ist frühestens mit ernsthaften Ergebnissen der Recherchen zu rechnen?
In drei bis fünf Jahren. Natürlich sind auch Zufallsfunde denkbar, die für sich genommen spektakulär sind. Sollte man etwa den NS-Propagandafilm über die KZ-Siedlung Theresienstadt finden, von dem bisher nur einzelne Schnipsel und Ausschnitte erhalten sind, wäre das schon eine Entdeckung. Es heißt, der Nuntius sei bei der Uraufführung im Frühjahr 1945 in Prag dabei gewesen und habe eine Filmkopie bekommen. Meist jedoch geht es um komplexe Prozesse: Was wird intern diskutiert? Wann weiß der Papst was? Wie wird er beraten? Wen schaltet er ein? Was passiert? All die Antworten auf solche Fragen müssen sauber miteinander verknüpft werden.
Dennoch sind sensationelle Meldungen zu erwarten.
Wenn jemand ein einzelnes Dokument findet, das Pius XII. ganz hell oder ganz dunkel dastehen lässt, wäre ich vorsichtig. Bei einem solchen Thema verlangt der Respekt vor den Opfern, aber auch der Respekt vor Pius XII. selbst, erst einmal die Bestände umfassend durchzuarbeiten - und dabei sehr genau hinzuschauen.