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Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen: Der Katholik Werner Henning (CDU) war 34 Jahre lang Landrat im thüringischen Eichsfeld. Im Kirche+Leben-Interview nennt er Gründe für den Erfolg der AfD und sagt, welche Rolle der „Verlust von Religion“ dabei spielt.
Herr Henning, im Thüringer Landtag könnte die AfD größte Fraktion werden, so stark wie CDU und SPD zusammen, hinzu kommen Linkspartei und Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Wie erklären Sie sich dieses mögliche Wahlergebnis?
Die Linkspartei wird – sicher zutreffend – noch oft an ihr Herkommen aus der SED der DDR erinnert, deren vollständiger Zusammenbruch aber über 30 Jahre zurückliegt. Der überwiegende, auf die heutige Zeit hinübergewachsene Teil sucht vermittelnd nach ausgleichenden Antworten im Sozialverhalten der Gesellschaft. Die mehr ideologisch getriebenen Kräfte haben in den Angeboten des BSW einen strafferen Rahmen zur eigenen Identifikation gefunden. So betrachtet zähle ich die verbliebenen „Linken“ eher zur Mitte. Dass CDU und SPD das nicht recht wahrhaben wollen, erklärt sich mir mehr aus deren Eigenverständnis, weniger aus einem nachprüfbaren Sozialverhalten.
Bemerkenswert ist, dass aktuelle Wahlprognosen etwa die Hälfte der Wählerstimmen den extremen Kräften von AfD und BSW zuschreiben. Beiden gemeinsam ist die zu verspürende Kompromisslosigkeit bei der Findung von Sachantworten. Beide suchen die Wahrheit nicht im Ausgleich, sondern in der Konsequenz. Sie erachten „halbe Sachen“ als Ausdruck von Schwäche. Sie unterscheiden sich eher bei der Ansprache ihrer Zielgruppen. Richtet sich die AfD an Menschen mit großem Problemdruck, die kaum noch Rücksicht auf irgendwelche Etikette nehmen müssen, so spricht das BSW eher ein atheistisches, linksgebildetes Bürgertum mit „Klassenstandpunkt“ an.
Allen politischen Parteien im Osten gemeinsam ist die Intention, ganzheitliche Lebensrezepte liefern zu wollen. Obgleich das niemand letztendlich kann, ist der Ruf hiernach im Osten noch immer deutlich höher als im Westen. Einen wesentlichen Grund hierfür erkenne ich in dem viel stärkeren Verlust von Religion mit den an die Einzelperson gerichteten erzieherischen Maßgaben, aus deren Summe die bürgerliche Gesellschaft gebildet wird. Im Osten lag der Schwerpunkt immer schon viel stärker auf dem Kollektiv, in dem der Einzelne nur ein Teil des Ganzen ist. Das wirkt bis heute.
Warum führt die AfD in den Umfragen – eine Partei, deren Landesverband der Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem einstuft und an deren Spitze Björn Höcke steht?
Die AfD ist nichts anderes als das Anklageformat, mit dem eine Bedienung der eigenen Emotionen und Forderungen ausgestellt wird. Dabei gibt die schier große Masse an vermeintlich Gleichgesinnten Schutz und Legitimation, alle sonst üblichen Formen von Menschenbild, Anstand und Moral, gutem Benehmen und höflichem Verhalten hinter sich zu lassen.
Die Ablehnung der AfD durch den Verfassungsschutz bewirkt eher einen Motivationsschub für den Aktionismus ihrer Anhänger, zumal der Verfassungsschutz als systemimmanent gewertet wird. Die Hauptwirkung von Herrn Höcke entfaltet sich über dessen Wahrnehmung, sich etwas zu trauen, wozu man selbst allein gar nicht den Mut hätte. Er ist Idol und stiftet an.
Auch im Eichsfeld wächst der Stimmenanteil der AfD, reicht aber noch nicht an die CDU heran. Was ist Ihr Rezept, Extremisten kleinzuhalten?