Alttestamentler Johannes Schnocks über die Gefahr des Antisemitismus

„Wahre Christen können nicht antijüdisch sein“

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Gewalt gegen Juden in Deutschland nimmt zu, zeigen Statistiken. Im Gespräch erklärt Bibelwissenschaftler Johannes Schnocks aus Münster, warum es gerade auch für Christen wichtig ist, die Wurzeln von Antisemitismus und Antijudaismus immer wieder aufzudecken und sie zu bekämpfen.

Das Gedenken an die Reichspogromnacht am 9. November wird in diesem Jahr nur im eingeschränkten öffentlichen Rahmen möglich sein. Warum ist die Erinnerung an dieses Ereignis in der Nazi-Zeit so wichtig?

Die Erinnerung ist einerseits wichtig, weil wir es den Opfern schuldig sind, die Verbrechen an ihnen immer wieder als solche zu benennen. Dabei denke ich zunächst an das immer wieder unfassbare Verbrechen der planvollen Ermordung von sechs Millionen jüdischen Frauen, Männern und Kindern und die vielen Einzelschicksale der Vertreibungen, der zerstörten Familien und generationenübergreifenden Traumata.

Ist der 9. November nur ein abstraktes historisches Datum?

Es geht beim Gedenken an den 9. November auch darum, dass sich hier Mitbürger mit barbarischer Gewalt gegen ihre jüdischen Mitbürger gewandt haben, dass Geschäfte und Wohnungen von Nachbarn geplündert und Synagogen, die es in Deutschland als Ausdruck einer fest etablierten jüdischen Kultur gab, angezündet wurden. Sicher, die Pogrome waren staatlich organisiert, aber viele Menschen haben einfach mitgemacht. Wir können nur dann darauf hoffen, in einem anderen Deutschland leben zu können, wenn wir dieser Verbrechen gedenken.

In Vorträgen und bei Gesprächsabenden sprechen Sie über die Gefahr des Antisemitismus in Deutschland. Für wie gefährlich halten Sie ihn?

Ich bin kein Politologe und kann das nicht beziffern. Was mich aber alarmiert, ist, dass wir nun schon einige Jahre lang eine Zunahme sowohl der Häufigkeit als auch der Brutalität antisemitischer beziehungsweise antijüdischer Angriffe verzeichnen müssen. Dabei müsste man die verschiedenen Motivationen unterscheiden, die oft in merkwürdigen Vermischungen auftreten. Wir haben es mit Elementen sowohl religiöser Judenfeindlichkeit zu tun als auch von politischem Antisemitismus und dann auch aus einer Israelfeindlichkeit, die eher aus dem islamistischen Bereich kommt. Gleichzeitig erfahren in vielen Ländern und eben auch in Deutschland rechte Parteien Zuspruch, die mit nationalistischen oder fremdenfeindlichen Parolen werben und damit auch in der Diskussionskultur Grenzen verletzen und unsere religiös und kulturell plurale Gesellschaft angreifen.

Gibt es dafür konkrete Beispiele?

Wir erleben jetzt schon als direkte Folge, dass sich Menschen, die die Kippa oder andere jüdische Symbole tragen, auf der Straße nicht mehr sicher fühlen. Hier wird ein Maß an Judenfeindschaft deutlich, das gesellschaftlich völlig inakzeptabel ist. Das hat dann nichts mehr mit konservativen Meinungen zu tun, sondern mit Menschenverachtung und damit mit der aktiven Förderung von Verbrechen.

Sie sprechen davon, dass das Verhältnis von Christen und Juden eine bleibende Aufgabe ist. Warum?

Das Verhältnis von Juden und Christen ist seit den Anfängen spannungsvoll, weil das Christentum aus dem Judentum entstanden ist. Es ist zwar selbstverständlich, aber man muss oft noch einmal betonen, dass Jesus und seine Anhänger Juden waren. Deshalb war die Heilige Schrift des Judentums auch die Heilige Schrift der frühen Christen, mit der sie die Erfahrungen mit Jesus gedeutet haben. Auch wenn sich Judentum und Christentum dann getrennt und voneinander abgegrenzt haben, so ist diese gemeinsame theologische Basis doch sehr stark. Aber die Entfremdung und das Nichtwissen sind gerade auf christlicher Seite ebenfalls stark.

Hat sich das christlich-jüdische Verhältnis sich nicht deutlich verbessert?

Die Kirchen haben in den vergangenen 60 Jahren wichtige Schritte hin auf eine volle Anerkennung des Judentums getan, aber viele alte Vorurteile und Vereinnahmungen sind eben tief verwurzelt. Für uns Christen ist der respektvolle Kontakt zum heutigen Judentum eine ganz wichtige Aufgabe. Wir sollten das Judentum um seiner selbst willen kennen lernen und werden dabei sicher auch über unsere eigene Religiosität intensiver nachdenken. Wenn ich in einer Synagoge zu Gast war, hat es mich immer tief berührt, dass wir – Juden und Christen – die Psalmen gemeinsam sprechen. Das ist ein großer gemeinsamer Schatz, und wir lernen erst seit relativ kurzer Zeit auch in der Bibelwissenschaft, ihn gemeinsam mit dem Judentum zu heben.

Als Bibelwissenschaftler beschäftigen Sie sich mit dem historischen Antijudaismus im Christentum. Sind Christen besonders anfällig für eine antijüdische Einstellungen?

Da das Christentum in seinen Anfängen auch von scharfen Abgrenzungen zwischen den verschiedenen jüdischen Strömungen, zu denen es selbst gehörte, geprägt ist, gibt es im Neuen Testament einige heftige polemische Passagen. Diese lesen sich noch viel schärfer, wenn man sie nach der Trennung von Juden und Christen nicht mehr als Auseinandersetzungen innerhalb des Judentums versteht, wie sie einmal gemeint waren, sondern als Vorwürfe gegen das Judentum. Bei Paulus gibt es Passagen mit geradezu tragischer Wirkungsgeschichte.

Was ist in dieser Frage dann der Auftrag der Bibelwissenschaftler?

Worum es mir aber geht, ist, dass wir auch alte Formen religiöser Judenfeindschaft kennen und widerlegen können sollten, weil sie auch aktuell immer wieder auftauchen. Ein Beispiel ist die immer wieder begegnende Behauptung, im Alten Testament sei nicht vom selben Gott die Rede wie im Neuen Testament und daher sei das keine Heilige Schrift für Christen. Die Kirche hat solche Behauptungen immer als Irrlehre zurückgewiesen, und doch finden wir eine Geringschätzung des Alten oder besser Ersten Testaments auch in kirchlichen Dokumenten und Verlautbarungen.

Was sind Folgen dieser fehlenden Beachtung?

Diese Geringschätzung geht dann mit einer Ablehnung des Judentums einher. Umgekehrt kann man hier erahnen, dass eine lebendige Beziehung zum Judentum auch mit unserer christlichen Identität und mit unserem Gottesglauben unmittelbar zu tun hat. Und dann müsste die Antwort auf Ihre Frage lauten: Christen, die ihr Christentum gut verstehen und leben, können nicht antijüdisch sein.

Sie gehören dem Vorstand der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Münster an. Was ist der Auftrag dieser Gesellschaft?

Die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Münster hat zu ihrem 50-jährigen Bestehen 2007 eine Schrift herausgegeben mit dem Titel „Wieder miteinander wohnen in Eintracht“. Man könnte in diesem Sinne sagen, der Auftrag der Gesellschaft ist, das einträchtige Miteinander von Juden und Christen in Münster aktiv zu fördern, indem sie mit vielfältigen Kultur- und Bildungsangeboten über jüdisches Leben und jüdische Geschichte informiert und mit Gedenkveranstaltungen an die Verbrechen der Vergangenheit erinnert.

Johannes Schnocks ist Professor für Zeit- und Religionsgeschichte des Alten Testaments an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Er gehört zum geschäftsführenden Vorstand der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Münster.

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