Gast-Kommentar von Kai Sander, Dogmatiker in Paderborn

Warum die Kirche von unten neu wachsen muss

Wie weiter mit der Kirche, in unruhigem Fahrwasser zwischen Bewahrern und Reformen und umtost von den Stürmen der Welt? Ein Gast-Kommentar von Kai G. Sander, Dogmatiker an der Katholischen Hochschule Paderborn.

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Wie weiter mit der Kirche, in unruhigem Fahrwasser zwischen Bewahrern und Reformen und umtost von den Stürmen der Welt? Kai G. Sander, Dogmatiker in Paderborn, beschreibt, wie sich die Kirche ändern und welchen Habitus sie ablegen muss.

Wir erleben unruhiges Fahrwasser für jene, die das Steuerruder der Kirche, des „Schiffleins Petri“, des „Schiffs, das sich Gemeinde nennt“, in der Hand halten. Äußere Faktoren wie die unaufhaltsame Pluralisierung der Gesellschaft und die digitale Empörungskultur bilden gefährliche Strudel. Innere Strömungen wie das Ringen zwischen reformfreudigen Katholiken und nostalgischen Verteidigern der traditionellen Kirche hebeln sich gegenseitig aus und blockieren so jede Bewegung – sei es vorwärts oder rückwärts.

Diese lähmende Irritation wirkt auf allen Ebenen verhängnisvoll: in Familienkreisen und Pfarreiräten, in den nationalen Bischofskonferenzen und sogar in den gegensätzlichen Äußerungen des Heiligen Stuhls, wo offensichtlich ebenfalls Reformer und Bewahrer Tür an Tür sitzen und eifrig gegeneinander agieren.

 

Wirkliche „Re-Form“ des Christseins

 

Der Autor
Kai G. Sander (*1963) ist seit 2004 Professor für Dogmatik und Fundamentaltheologie am Fachbereich Theologie der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Paderborn. Seit 2016 ist er zudem der Dekan des Fachbereichs „Systematische Theologie“.

Rede und Gegenrede rauschen durch den medialen Wald und hinterlassen den Eindruck, dass die eine heilige Kirche, die weltweit mit einer Zunge spricht, in einer individualisierten Gesellschaft der spontanen Meinungskundgabe nicht mehr funktioniert. Befreier wie Bewahrer investieren dabei viel Mühe in die „neu zu denkende“ oder auch „rein zu bewahrende“ Kirche. Aber auf diese Weise wird Energie, die nötig wäre, um das Christsein in die moderne Welt zu integrieren, für Rettungsversuche der – zugegebenermaßen imposanten – Ruinen der vergangenen Epochen verbraucht.

Die radikale Transformation der Menschheit, die gegenwärtig von völlig konträren Tendenzen geprägt ist – Globalisierung und Regionalisierung, Digitalisierung und Individualisierung, Freiheitskult bei gleichzeitiger Abkehr von Demokratieprozessen, Fortschrittshoffnung und ökologische Untergangsangst –, erfordert, dass auch das Christsein eine wirkliche „Re-Form“ erlebt.

 

Keine Amtlichkeit und keine „von oben verordnete“ Innovation

 

Menschen, die sich nicht mehr als Untertanen verstehen, brauchen als geistliche Heimat keine „Mater et Magistra“ mehr, keine Amtlichkeit und Behördenkultur, auch keine „von oben verordnete“ Innovation, sondern echte Inspiration, Orientierung und kreative Gestaltungsfreiheit auf der Grundlage der zweitausendjährigen Tradition des gemeinschaftlichen Brückenbaus zwischen Gott und den Menschen. „Gott ruft sein Volk zusammen“ – aber diese Gemeinschaft muss mehr bieten, als nebeneinander auf der Kirchensteuerliste zu stehen.

Nur wo wir zueinander finden, zusammengehören, uns kennen und annehmen, kann wirklich Christus in unserer Mitte greifbar werden – auch im Sakrament. Von unten muss solche Gemeinschaft wachsen, diejenigen verbinden, die sich persönlich vom Evangelium einladen lassen, Erfahrungen des Himmels mitten auf Erden ermöglichen – und 90 Prozent der Fragen, die uns jetzt beschäftigen, würden sich dann gar nicht mehr stellen.

Die Positionen der Gastkommentare spiegeln nicht unbedingt die Meinung der Redaktion von „Kirche+Leben“ wider.

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