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Chiara Lubich, italienische Gründerin der weltweiten Bewegung der Fokoloare (1920-2008), wäre in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden. Der münstersche Weihbischof Christoph Hegge gehört der Gemeinschaft an und hält bei einem internationalen Bischofstreffen der Fokolare ab morgen in Trient und Loppiano einen Vortrag. Was Chiara Lubich ihm persönlich und für die Kirche heute sagt, erläutert er im Interview mit „kirche-und-leben.de“.
Herr Weihbischof, Sie gehören zur Gemeinschaft der Fokolare, deren Gründerin Chiara Lubich in diesen Tagen 100 Jahre alt geworden wäre. Sie kannten Sie gut. Was hat sie für Sie persönlich so besonders gemacht?
Chiara Lubich war eine einfache Frau aus dem Volk, der eine besondere Berufung, eine besondere Gabe Gottes geschenkt wurde, die sie absolut glaubwürdig und auf Augenhöhe mit allen Menschen vermitteln konnte. So habe ich sie erlebt in meinen Begegnungen in Castel Gandolfo in der Nähe von Rom und vor allem bei ihrem Besuch in Münster, wo sie 1998 einen geistlichen Vortrag vor circa 3.000 Jugendlichen gehalten hat. Sie wollte in jeder Begegnung vermitteln, was konkrete Nächstenliebe ist, was es heißt, den anderen vorbehaltlos anzunehmen, ihm zu dienen, denn sie folgte schlicht dem Neuen Gebot Jesu: „Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben“ (Joh 13,34) und „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt.“ (Joh 15,13) In echter, unromantischer und konkreter Liebe nach dem Maß der Liebe Jesu, die wehrlos bis ans Kreuz geht, vermittelte Chiara Lubich eine Gottesgegenwart selbst in den Momenten erfahrener Gottesferne, weil Christus alle Dunkelheit der Welt, alle Sünde durch Liebe bis zum Letzten angenommen, verwandelt und erlöst hat.
In dieser Überzeugung sollten auch wir Christen leben und einander diese konkrete Liebe erweisen, sodass Christus in seinem Geist unter uns und in unseren Beziehungen leben und sich das Geschenk seiner Gegenwart ereignen kann: „Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen. (Mt 18,20). Das Ziel dieser ursprünglichen Lebensweise der Christen nach dem Pfingstfest war und ist bis heute jene Einheit aller Menschen, die Jesus in seinem Abschiedsgebet formuliert: „Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast“ (Joh 17,21).
Wenn Sie die Fokolare in drei Sätzen beschreiben sollten, was würden Sie sagen?
Die Fokolare sind wie eine Familie von Männern und Frauen, Klerikern, Ordensleuten, Kindern, Jugendlichen und Familien, die miteinander als „neues Volk Gottes“ leben wollen, jenes Volk, in dem nur noch das eine Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe gilt. Darum heißt es in den Statuten der Fokolar-Bewegung zu Beginn: „Die gegenseitige und beständige Liebe, die die Einheit und die Gegenwart Jesu in der Gemeinschaft ermöglicht, ist für die Angehörigen des Werkes Mariens (so der offizielle Name der Fokolar-Bewegung) die Grundlage ihres Lebens in jedem seiner Aspekte: Sie ist die Norm aller Normen, die Voraussetzung für jede andere Regel.“ Darum wurden die Wohngemeinschaften der ersten Mitglieder der Bewegung auch von Anfang an als „Fokolare“ – „Feuerstellen“ bezeichnet: Das Feuer ist Jesus Christus, wie er in der Beziehung der konkreten Liebe zwischen den Mitgliedern erfahrbar wird.
Manchmal hat man den Eindruck, es sei ein Geheimnis, wer zu den Fokolaren gehört. Was sagen Sie dazu?
Vielleicht ist es in den vergangenen Jahrzehnten für Mitglieder der Fokolar-Bewegung gerade in Deutschland nicht immer leicht gewesen, sich als Mitglied zu outen, weil dann sofort der Verdacht aufkam, dass sie besonders fromme Sonderlinge seien, denen das „normale“ Leben in der Pfarrei nicht ausreicht. Bis heute engagieren sich aber Mitglieder der Fokolar-Bewegung in den Pfarreien und gehen meist täglich zur Messe.
Inzwischen wissen viele Gläubige, Seelsorgerinnen und Seelsorger, wie wertvoll die geistlichen Impulse der Fokolar-Bewegung für das Leben in den Gemeindegruppen sein können. Denken wir nur an die Weise, das „Wort des Lebens“, also Worte aus der Heiligen Schrift, zu leben und den konkreten Alltag im Licht der Botschaft Jesu neu verstehen zu lernen. Es geht heute mehr denn je darum, mit Hilfe von Impulsen von Taizé, der Weltjugendtage, der Geistlichen Gemeinschaften zu den lebendigen Quellen des Glaubens und zu einer lebendigen Christusbeziehung zurückzufinden.
Wie prägt Ihre Zugehörigkeit zu den Fokolaren Ihren Dienst als Weihbischof im Bistum Münster?
Ein grundlegender Impuls der Spiritualität der Einheit der Fokolarbewegung ist für mich, dass Glaube und Leben nur gemeinsam möglich sind. Das bedeutet für mich, mich immer wieder mit Bischöfen, Priestern und Gläubigen in regionalen und weltweiten Gruppen zu treffen, in denen wir uns einfach als Brüder und Schwestern begegnen, die sich über ihr Leben austauschen, die gemeinsam beten, miteinander das Wort Gottes leben, miteinander teilen und einander im Leben mittragen. Dieses Leben aus der tiefen Verbundenheit in der Liebe Gottes, die ihren Höhepunkt am Kreuz fand, öffnet unser Herz für jede Not in der Welt, für jeden Unfrieden, für den Dialog mit allen Menschen auch anderer Konfessionen, Religionen und Weltanschauungen, die Gott ebenfalls zur Versöhnung, zum Frieden, zur Gerechtigkeit führen möchte – entsprechend dem tiefsten Wunsch Jesu, „dass alle eins seien, damit die Welt glaubt“ (vgl. Joh 17,21).
Das fordert alle heraus, die das Charisma der Einheit von Chiara Lubich leben, die konventionellen und oft traditionellen Grenzen ihrer Vorstellung von Glaube und Kirche zu sprengen, um, wie es Papst Franziskus sagt, „an die Ränder zu gehen“, wo Christus uns in allen suchenden, fragenden, orientierungslosen, leidenden, wütenden, armen und friedlosen Menschen entgegen kommt. Denn: „Was wir den Geringsten getan haben, das haben wir ihm getan“ (vgl. Mt 25,40). Und auf diesem Weg möchte die Spiritualität der Fokolar-Bewegung, wie ihre Mitglieder, ein Instrument Gottes in der Kirche sein, deren Sendung es als Ganze ist, „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ zu sein (Lumen Gentium 1).