Interview mit dem Bischof von Münster über Chancen und Risiken geistlicher Begleitung

Felix Genn: Warum ich geistliche Begleitung jedem nur empfehlen kann

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Vor der Gefahr geistlichen Missbrauchs hat Bischof Felix Genn jüngst gewarnt, zugleich forderte er Kriterien für gute geistliche Begleitung. Doch wem bringt sie was? Woran erkennt man einen guten Begleiter – und woran einen schlechten? Im Interview mit "Kirche-und-Leben.de" gibt Münsters Bischof Tipps und sehr persönliche Einblicke in seine eigenen Erfahrungen.

Herr Bischof, Sie waren selber lange Zeit als geistlicher Begleiter tätig. Was ist überhaupt geistliche Begleitung? Was unterscheidet sie von Beichtgespräch, psychologischer Beratung oder Coaching?

Sie verwenden Begriffe, die vermutlich für viele Leserinnen und Leser ähnlich wenig zu ihrer Alltagserfahrung gehören wie die geistliche Begleitung. Wer kennt schon ein Coaching, wenn er oder sie nicht in einem Betrieb ist, der das ermöglicht oder zu dessen Unternehmenskultur das zählt? Ich sage aber bewusst auch: Wer kennt heute noch ein Beichtgespräch? Vielleicht ein Mensch, der punktuell über eine bestimmte Situation sprechen und Entlastung erfahren möchte. Geistliche Begleitung setzt dieses punktuelle Ereignis fort in eine Gesprächsreihe: Menschen ringen um schwierige, bewegende Fragen in ihrem Leben – und lassen sich von jemandem, dem sie vertrauen, auf diesem Weg begleiten. Zielpunkt geistlicher Begleitung ist dabei, eine Antwort auf die Frage zu finden: Was hat die Situation, in der ich mich gerade befinde, mit meiner Beziehung zu Gott und mit meinem Glauben zu tun?

Das heißt, geistliche Begleitung ist keineswegs nur eine Möglichkeit für Geistliche oder Seelsorgende. Könnten Sie einen Anlass nennen, für den Sie eine geistliche Begleitung empfehlen würden?

Es ist richtig, was Sie sagen: Jede gläubige Christin und jeder gläubige Christ kann diese Erfahrung geistlicher Begleitung für sich entdecken – und ich ermutige ausdrücklich dazu, wenn Menschen an solche Punkte im Leben kommen, die eine gut begründete innere Entscheidung brauchen. Das können traurige, schwierige Situationen sein, aber auch solche, die einen positiv bewegt haben. Sich das näher anzuschauen, kann nur gut sein. Ob daraus eine längere geistliche Begleitung wird, lässt sich am Anfang nicht sagen.

Wie läuft geistliche Begleitung ab?

Die eine Methode gibt es nicht. Wenn der geistliche Begleiter seine Sache gut macht, wird er sagen: „Erzählen Sie, ich höre Ihnen zu.“ Und dann wird er solange hören, bis entweder der Begleitete zu sprechen aufhört oder der Begleiter es für sinnvoll hält, eine Frage zu stellen, mit der eine Antwort oder zumindest eine Vertiefung hervorgerufen werden kann. Es gibt in der geistlichen Begleitung Gespräche, die 45 Minuten dauern, in denen der Begleiter selber aber nur fünf Minuten gesprochen hat.

Das heißt, es gibt nicht einfach eine Frage – und der Begleiter gibt seinen Rat dazu?

Ganz und gar nicht! Denn in dem Wort „Ratschlag“ steckt doch eben auch das Wort „Schlag“. Ein Begleiter ist nicht dazu berufen, einen Ratschlag zu geben, eben weil das auch ein Schlag sein kann. Wenn der Mensch, den ich begleite, mich um einen Rat fragt, gebe ich oft die Frage zurück – und es wird klar: Der Begleitete ist sich der Antwort längst bewusst. Der Begleiter hat die Aufgabe, die Antwort, die im anderen liegt, zum Leben zu erwecken. Deswegen ist die Bezeichnung, dass ein Begleiter auch eine gewisse Hebammen-Funktion hat, nicht schlecht – und für jeden verständlich.

Was ist das Geistliche daran?

Eben genau dies: dass der Begleiter sich völlig zurücknimmt und Gott wirken lässt. Nicht er bestimmt das Leben des anderen, sondern er versucht, mit dem anderen zu entdecken, wo Gott seine Spuren in das Leben des anderen so einzeichnen will, dass der Begleitete sie wahrnehmen kann. Aber Vorsicht! Genau hier kann auch der geistliche Missbrauch beginnen – nämlich dann, wenn der Begleiter meint zu wissen, was für den anderen das Richtige ist.

Gibt es auch geistliche Begleiterinnen?

Selbstverständlich! Dieser Dienst ist nicht an die Weihe gebunden. Ich habe auch Priestern in manchen Situationen bewusst geraten, eine geistliche Begleiterin aufzusuchen.

Wer kann geistlicher Begleiter oder geistliche Begleiterin sein?

Jedenfalls nicht jeder! Und schon gar nicht jeder, der meint, er könne das. Es braucht jemanden, der eine geistliche Kompetenz hat. Diese kann man erwerben. Zudem muss die betreffende Person selbst in geistlicher Begleitung sein. Sie muss an sich selber erfahren haben, wie sich geistliche Begleitung diskret ereignen kann. Auch muss dieser Mensch ein betender Mensch sein. Und darüber hinaus muss er ein reifer Mensch sein, der bereit ist, sich ganz zurückzunehmen, und dem zutiefst bewusst ist, wie unsagbar viel Vertrauen ihm geschenkt wird.

Gibt es eine offizielle Ausbildung, eine bischöfliche Beauftragung, ein Gütesiegel?

Eine offizielle Beauftragung oder eine Liste „anerkannter“ geistlicher Begleiterinnen und Begleiter gibt es nicht. Letztlich ist jeder frei, die Person als geistliche Begleitung zu wählen, der er vertraut. Eine Ausbildung gibt es hingegen natürlich. Ich selber habe einen zweijährigen Kurs bei den Jesuiten gemacht, um das, was ich als Spiritual an Praxis-Erfahrung gemacht hatte, intensiv und kritisch „überschauen“ zu lassen – um das Wort „Supervision“ einmal wörtlich zu übersetzen. Und ich sage Ihnen: Ich habe dabei sehr viel gelernt. Ich habe vor allem anderen gelernt: Der andere schenkt sich mir, aber ich mache mit dem anderen gar nichts. Ich als Begleiter bin Empfänger dessen, was der andere mir sagt, um ihm zu helfen, das zu empfangen, was Gott ihm schenkt.

Was kostet eine solche geistliche Begleitung?

Nichts, geistliche Begleitung ist und muss kostenlos sein, das heißt ohne jegliche Abhängigkeit. Anders ist es bei einem professionellen Coaching oder einer Therapie.

Wo finde ich einen kompetenten geistlichen Begleiter, eine kompetente geistliche Begleiterin?

Ich würde schlichtweg empfehlen, Menschen zu fragen, die bereits geistliche Begleitung genutzt haben. Das kann womöglich auch jemand aus dem Seelsorgeteam in der Pfarrei sein. Auch die Frauen und Männer, die als Spirituale bei uns in der Ausbildung der Priesterkandidaten und Pastoralreferentinnen und -referenten tätig sind, werden Empfehlungen geben können. Und dann wird es notwendig sein, schlichtweg auszuprobieren. Wichtig ist dabei, dass die begleitete Person merkt: Dieser Begleiter oder diese Begleiterin ist mir nicht nur sympathisch, sondern bei ihr oder ihm kann ich mich auch wirklich öffnen, da gibt es keine innere Blockade. Das spürt jeder Mensch.

Aus Ihrer Erfahrung: drei Erkennungszeichen für eine gute geistliche Begleiterin, einen guten geistlichen Begleiter?

1. Die Person macht aus diesem Dienst keinen Wind. 2. Die Person betet und lebt aus einer tiefen Gottesbeziehung. 3. Bei der Person ist zu spüren: Hier ist höchste Diskretion gewahrt.

Und drei Tipps, an denen ich erkenne, dass die Begleitung nicht gut ist?

1. Wenn der Begleiter mich immer wieder in eine bestimmte Richtung führen will. 2. Wenn der Begleiter über mich verfügen will, wenn er sich ständig in mein Leben drängt und mich für sein Leben braucht, dann stimmt etwas nicht. 3. Wenn der andere mir eine bestimmte Form von Frömmigkeit auferlegen will, die mich überfordert, weil sie nicht meine Frömmigkeit ist. Das kann sogar krank machen!

Wie lange dauert so eine Begleitung, wann ist ihr Ziel erreicht?

Da gibt es kein Ziel. Schauen Sie sich mich an: Ich bin 70 Jahre alt und immer noch in geistlicher Begleitung (lacht)! Also, im Ernst: Ich brauche geistliche Begleitung, sonst kann ich meinen Dienst als Bischof nicht tun.

Warum ist das für Sie wichtig?

Weil ich jemanden brauche, der mir hilft, auf meinem Glaubensweg meine Tätigkeit, meinen Dienst zu reflektieren. Anders kann ich nicht mir selbst, meiner Berufung und meiner Verantwortung als Bischof gerecht werden. Damit ich mich nicht verrenne. Auch ich als Bischof brauche die ernsthafte, redliche und geistlich gegründete Kritik und Korrektur.

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