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Das morgendliche Lied im Stuhlkreis ist Programm: „Du bist anders als – ich bin anders als – ihr seid anders als – wir sind anders…“, singen die Kinder der Klasse 1a an der Ludgerus-Grundschule in Rheine. „Bunte Stunde“ heißen die 45 Minuten, in denen einmal in der Woche ein außergewöhnliches Fach auf dem Plan steht: Es geht um die Vielfalt der Kulturen und Religionen, die in der städtischen Schule zusammen im Klassenzimmer sitzen.
„Danke, dass ihr so toll mitgesungen habt“, sagt die Klassenlehrerin Barbara Bögge. Und fügt die Namen hinzu: „Ozan, Ali, Despoina, Yeva, Melek, Mahmoud, Wladislaw…“. 21 der 22 Kinder in ihrer Klasse haben eine Migrationsgeschichte. Einige sind noch ganz neu in Deutschland, andere wurden bereits in Deutschland geboren. So oder so, zu den vielen Aufgaben einer Grundschule kommen damit sprachliche, kulturelle und religiöse Herausforderungen.
Verschiedene Kulturen als Chance
„Wir wollten das nicht mehr als Ballast sehen, sondern als eine Chance“, sagt Bögge. Sie spricht von der Zeit vor sieben Jahren, in der die Situation durch den Bürgerkrieg in Syrien besonders akut wurde. Bis zu 95 Prozent der etwa 150 Kinder kamen zeitweise mit Migrationshintergrund in die Ludgerus-Schule. Damals entwickelt die katholische Religionslehrerin zusammen mit dem Kollegium ein Konzept, in dem die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Religionen und Kulturen der Kinder zum festen Bestandteil des Lehrplans wurde.
„Sie stehen jetzt quasi auf dem Stundenplan“, sagt sie. „Nicht als Bestandteil eines anderen Fachs, sondern als eigenständige Unterrichtseinheit.“ Kollegium, Eltern und das Schulamt haben dem Konzept zugestimmt. Es ist damit verbindlich. Und ist aktuell geblieben. Nicht zuletzt durch die folgenden Flüchtlingswellen, auch durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine.
Missionieren würde abschrecken
„Kisten der Religionen“: Schulleiterin Cornelia Stitz (links) und Barbara Bögge haben viel Material zusammengestellt, mit dem die Lehrkräfte zu den unterschiedlichen Religionen arbeiten können. | Foto: Michael Bönte
Wichtig ist den Initiatoren, dass es nicht um die offensive Vermittlung christlich-abendländischer Sichtweisen geht. „Auf keinen Fall wollen wir missionieren“, sagt Schulleiterin Cornelia Stitz. „Das würde nur abschrecken und den Zugang zu den Kindern und Eltern erschweren.“ Vielmehr geht es um das Kennenlernen, Verstehen und Schätzen der einzelnen Religionen, ihrer Feste und Eigenarten. „Lernen geht nur, wenn Vertrauen entstanden ist – und Vertrauen bildet sich durch Wissen und Wertschätzung.“
Genauso gestalten sich die „bunten Stunden“ im Stuhlkreis – jede Woche, in jeder Jahrgangsstufe, in jeder Klasse. Die Schatzkiste, die von den Erstklässlern in der ersten Einheit geöffnet wird, enthält einen Spiegel, in dem sich die Schüler selbst sehen. Die Botschaft: „Ihr seid der größte Schatz, den wir haben.“ Es folgen spielerische Elemente zu den Themen Heimat, Sprache oder Gemeinschaft. Ein Wir-Gefühl entsteht. Eine Gruppe, in der jeder wichtig ist und die Eigenarten des anderen spannend und liebenswert. Nur so kann der muslimische Junge, der über zwei Jahre auf der Flucht aus Syrien zu Fuß Berge und Grenzen überqueren musste, das katholische Mädchen verstehen, das behütet im Münsterland aufgewachsen ist. Und umgekehrt.
Weltreligionen zum Anfassen in Rheine
In den folgenden Schuljahren bewegen sich die Klassen dann durch die Begrifflichkeiten der Religionen, durch ihre Geschichte, ihre Feiertage und ihre Spiritualität. Dafür steht viel Material bereit. „Auch weil nicht jeder im Kollegium mit den Hintergründen so vertraut ist“, sagt Bögge. Die einzelnen Kisten zu den fünf Weltreligionen etwa sind wichtige Hilfsmittel. Mit Koran, Kelch oder Kippa gibt es die unterschiedlichen Glaubensrichtungen zum Anfassen. Das Verstehen wächst: „Plötzlich ist es für alle nachvollziehbar, dass die muslimischen Kinder im Ramadan müde sind und kein Frühstück mit in die Schule bringen.“
Es bleibt nicht bei der „bunten Stunde“. Das Konzept macht viele weitere Vorgaben, um das Thema „Religionen und Kulturen“ im Schulalltag zu verankern. Etwa in den interreligiösen Gottesdiensten, zu denen neben evangelischen und katholischen Seelsorgern auch immer Vertreter der islamischen Gemeinde kommen. Dann wird im Foyer der Grundschule genauso die Bibelstelle gelesen wie die Sure.
Zum Weihnachtsgottesdienst kommen alle
„Das schafft Akzeptanz und öffnet die Familien anderer Religionen auch für unseren christlichen Hintergrund, für den evangelischen, katholischen und orthodoxen“, sagt Bögge. Wenn dann der Weihnachtsgottesdienst in der benachbarten St.-Ludgerus-Kirche stattfindet, sind Hemmschwellen abgebaut. „Dann kommen alle Familien – egal welcher Glaubensrichtung.“
Das Trennende rückt in den Hintergrund. Das haben die Lehrer an der Ludgerus-Schule in Rheine in den vergangenen Jahren erleben können. „Das gegenseitig Bereichernde rückt in den Vordergrund“, sagt Bögge. „Den Kindern wird ihre religiöse Identität nicht genommen, sondern sie erhalten von den anderen Kindern neue Horizonte dazu.“ Mit einer großen Schnittmenge – das wird bei den goldenen Regeln deutlich, die sie gemeinsam für den einzelnen Religionen aufgeschrieben haben. „Was du nicht willst, was man dir tut, das füge auch keinem anderen zu“, steht da bei den Christen. Die Muslime schreiben: „Keiner von euch ist ein Gläubiger, solange er nicht das für seinen Bruder wünscht, was er sich für sich selbst gewünscht hätte.“
Bistum Münster will von Ludgerus-Schule lernen
„Die Kinder sollen religiös sprachfähig werden“, fasst die Schulleiterin das Konzept zusammen. „Nur so können Lebensweisen und Kulturen zusammenwachsen, die zunächst weit voneinander entfernt scheinen.“ Nur so können sich Mahmoud aus dem Syrien, Yeva aus der Ukraine, Sofia aus Rumänien, Shabana aus Afghanistan, Emil aus Deutschland oder Wladislaw aus Russland verstehen und schätzen lernen.
Die Ludgerus-Grundschule in Rheine ist damit vorgeprescht, indem sie für die Situation früh einen eigenen Plan entwickelte. „Einen Plan, den es nicht nur hier braucht“, sagt Stitz. „Denn die multi-kulturelle und -religiöse Entwicklung gibt es überall.“ Auch die Schulabteilung des Bistums Münster ist bereits aufmerksam geworden. Barbara Bögge ist bei den dortigen Fortbildungen der Religionslehrer regelmäßiger Gast. „Sie wollen von unserem Konzept lernen.“