Gedenktag für verstorbene Kinder

Wenn Leben viel zu früh enden

Alfons und Andrea Aerdker haben drei Söhne. Einer von ihnen starb vor der Geburt, ein anderer zehn Monate danach. Auch ihnen wird am kommenden Sonntag weltweit gedacht.

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Drei unterschiedlich dicke Fotoalben liegen auf dem Esstisch. Das hat seinen Grund. Jedes Buch erzählt die Geschichte eines Kindes. Die Leben der Kinder der Familie Aerdker aus Milte bei Warendorf sind unterschiedlich lang. Eins endete vor der Geburt. Eins dauerte nicht mal ein Jahr. Das dicke Album, das von Achim, füllt sich derzeit immer weiter. Er ist fünf Jahre alt.

„Es ist unbegreiflich, was wir erlebt haben“, sagt Alfons Aerdker. Seine Frau Andrea und er verloren in den vergangenen acht Jahren zwei Kinder. Eine Zeit voll Angst, Trauer und Zweifeln. Dazwischen mussten sie irgendwie funktionieren. Arbeit, Alltag, Arztbesuche. Sie verbrachten oft mehr Zeit in Krankenhäusern als daheim. „Ohne unseren Glauben wären wir zusammengebrochen.“

 

Glaube kein Selbstläufer

 

Dieser Glaube war kein Selbstläufer. Es gab Momente, in denen sie haderten. In denen sie sich von all dem verlassen fühlten, in dem sie eigentlich Geborgenheit finden wollten. Entscheidend war, dass es Menschen gab, die halfen, diesen Halt nicht zu verlieren. Sie denken dabei vor allem an die Seelsorger in ihrer Pfarrgemeinde St. Johannes der Täufer. „Sie haben uns gezeigt, dass unsere Situation wichtiger ist als alles andere.“ Das tat gut. Und es brachte Mut und Kraft.

Da war der kleine Alexander, der an einem Sonntag im Jahr 2008 auf die Welt geholt wurde. 20 Wochen alt, 150 Gramm schwer. Er war da schon einige Zeit tot. „Ich habe immer gemerkt, dass etwas nicht stimmt“, sagt die Mutter. „Aber erst kurz zuvor hatten die Ärzte seinen Zustand diagnostiziert.“ Die Situation überrollte die Eltern.

 

Innere Leere

 

Es gab Verwandte und Freunde, die halfen. Und Pfarrer Karl Jasbinschek. „Er sagte, dass unsere Lebenslage für ihn über allem stand, was ihn derzeit beschäftigte.“ Wenig später kam er ins Krankenhaus, segnete das Kind und hatte Zeit für Gespräche. „Es ging um Gefühle, um innere Leere, um Ratlosigkeit“, erinnert sich die 47-Jährige. Und es ging um die Beerdigung. „Wir machen alles möglich“, sagte der Pfarrer. Die Aerdkers erinnern sich an einen gefühlvollen Gottesdienst und eine schöne Beisetzung.

Der Kontakt riss nicht ab. Weit über die Begegnung nach den Sonntags-Messen hinaus waren die Seelsorger ihrer Gemeinde für sie da. „Sie boten sich immer wieder an.“ Ein besonderer Satz blieb bei Alfons Aerdker hängen. Pfarrer Jasbinschek sagte einige Male zu ihm: „Wie geht es Ihrer Frau? Ich glaube, sie ist noch nicht darüber hinweg.“ Da war jemand, der sich um Gefühle kümmerte wie kein anderer. „Er war ein echter Seelsorger.“

 

Lebensbedrohlich

 

Und dann kam Arne. 2010 erblickte er das Licht der Welt. Viel zu früh, in der 23. Schwangerschaftswoche. Ein Frühchen, 710 Gramm schwer und bei seiner Geburt lebensbedrohlich krank. „Die Prognosen waren sehr schlecht“, sagt die Mutter. „Wir wollten ihn deshalb schnell taufen lassen.“

Gedenktag für verstorbene Kinder
Die Initiative „Weltweites Kerzenleuchten“ begeht jedes Jahr am zweiten Sonntag im Dezember den Weltgedenktag für alle verstorbenen Kinder. Betroffene auf der ganzen Welt stellen an diesem Tag um 19 Uhr brennende Kerzen in ihre Fenster. Jedes Licht soll an das Leben eines Menschen erinnern, egal wie lang es war. Dabei soll es für Angehörige und Freunde auch ein Zeichen der Solidarität in ihrer Situation sein. Selbsthilfe- und Trauergruppen laden zudem zu Veranstaltungen ein.

Pfarrer Jasbinschek war mittlerweile nicht mehr in Milte. Dieses Mal war es Pater Tom, ebenfalls ein Priester aus ihrer Pfarrgemeinde, der sofort bereit stand. Wenige Stunden später stand er mit Stola und einem kleinen Schälchen Wasser vor dem Plexiglaskasten, in dem Arne lag. Die Klappe daran wurde nur kurz geöffnet. Ein Kreuzzeichen auf der Stirn des Babys, ein Gebet, ein paar Worte der Hoffnung. Die Gesichter auf den Fotos zeigen, wie glücklich die Menschen waren, die um das Kind standen. Ärzte und Pfleger lächeln – der Vater und Pater Tom strahlen.

 

Dichte Momente

 

Es sollten noch viele solcher „engen Momente“ folgen, wie die Aerdkers sie nennen. Denn Arne kämpfte sich besser ins Leben, als die Ärzte es vermutet hatten. Zwar musste er mit seiner Mutter insgesamt acht Monate im Krankenhaus bleiben, zu Ostern 2011 aber hatte er seine Lungenschwäche so weit im Griff, dass er nach Hause durfte. Endlich. Wirkliche Festtage folgten. Am Mittwoch in der Osterwoche aber lag er plötzlich tot auf dem Wickeltisch.

Wieder brach alles zusammen. Und wieder half Pater Tom. „Eine Stunde später, mitten in der Nacht, saß er auf unserem Sofa und hielt das kleine Würmchen im Arm“, erinnert sich Alfons Aerdker. Der Priester hatte in den vergangenen Monaten eine enge Beziehung zum Kind aufgebaut. Er war immer wieder ins Krankenhaus gekommen. Nicht nur, um das Baby zu sehen. Auch um für die Eltern da zu sein. „Jetzt saß er da und kam mit der Situation selbst nicht klar.“

 

Tiefe Erschütterung

 

Es war eine tiefe Erschütterung, aber keine Hilflosigkeit die sie bei Pater Tom erlebten. Diese Ehrlichkeit tat gut, sagen die Aerdkers: „Es zeigte, dass diese Momente auch für ihn unfassbare Intensität hatten.“ Die folgenden Tage erlebten sie den Priester so: „Er sagte alle Termine ab, war Tag und Nacht für uns da.“ Gerade bei der Beerdigung spürten sie, wie sehr ihm ihre Situation am Herzen lag. „Er hatte als Inder ein wenig Probleme mit der deutschen Sprache“, sagt der 56-jährige Vater. „In der Messe damals hat er so deutlich gesprochen wie sonst nie – er hatte sich intensiv vorbereitet.“

Alfons, Achim und Andrea Aerdker können lächeln, auch wenn es viele schwere Kapitel in ihrem Familien-Album gibt.Alfons, Achim und Andrea Aerdker können lächeln, auch wenn es viele schwere Kapitel in ihrem Familien-Album gibt.

In der schweren Zeit danach war neben Pater Tom auch Pfarrer Matthäus Niesmann oft bei den Aerdkers. Nicht nur daheim, auch im Krankenhaus. Denn Achim hatte sich angekündigt. Auch er war ein Frühchen und musste auf die Kinderintensiv-Station. Gleiches Zimmer, gleicher Arzt, gleiches Bettchen. Schwere Erinnerungen: „Meine Frau war so niedergeschlagen – sie wollte mit niemandem sprechen“, sagt Aerdker. Zwei Tage nach der Geburt steckte Niesmann plötzlich den Kopf durch die Tür des Krankenzimmers. „Mit ihm begann sie wieder zu reden.“

 

Spirituelle Anstupser

 

Wenn die Aerdkers auf die vergangenen acht Jahre zurückblicken, tun sie das gemeinsam mit Achim. Der Fünfjährige ist absoluter Mittelpunkt ihres Lebens. „Ein echter Herzensbrecher“, sagt die Mutter. „Ein toller, selbstbewusster Kerl“, sagt der Vater. Sie wissen, dass sie das heute nicht so genießen könnten, wenn die Seelsorger sie nicht immer wieder aufgebaut hätten.

Viele Menschen waren für sie da, als es ihnen schlecht ging. „Die Hilfe der Seelsorger aber hatte etwas Besonderes“, sagt Andrea Aerdker. „Sie haben etwas Spirituelles angestupst, eine andere Dimension.“ Das geschah nicht allein im Gebet, sagt sie. Auch das Quatschen auf dem Sofa, ihre gemeinsamen Momente der Fassungslosigkeit oder die Umarmung gehörten dazu. „Sie haben uns einen großen Teil der Last genommen.“ Auch heute spüren sie das noch, etwa beim Weinen und Lachen mit Pater Tom, wenn sie zusammen die Foto-Alben anschauen.

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