Die Sicht des Netzwerks Kirchenasyl und von Helfern aus Hiltrup und Amelsbüren

Werden Flüchtlinge in Münster verstärkt abgeschoben?

Der Umgang mit Asylsuchenden hat sich nach Angaben des Netzwerks Kirchenasyl und der Flüchtlingshilfe Hiltrup/Amelsbüren verschlechtert. Die Stadtverwaltung Münster verweist auf Gesetze.

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Ein Jahr nach ihrem Start hat die Zentrale Ausländerbehörde (ZAB) im Juni laut Medienberichten 460 Abschiebungen gemeldet. Die Zentrale Unterbringungseinrichtungen (ZUE) in der York-Kaserne Münster ist ihr verwaltungsmäßig untergeordnet. Dort eskalierte Anfang Juli der Versuch einer Abschiebung nach der Dublin-Verordnung.

Laut Netzwerk Kirchen­asyl Münster verbarrikadierte die zwölfjährige Tochter um 4.30 Uhr von innen die Tür des Zimmers in der ZUE. Die Mutter stand am offenen Fenster und drohte, in die Tiefe zu springen. Nach Abbruch der Aktion, die laut des Netzwerks von Augenzeugen als „Belagerungszustand“ geschildert wurde, kam die Frau in eine psychiatrische Klinik.

Stadt: „Ausländerbehörde hat gesetzliche Vorgaben zu beachten"

Ein 33-jähriger Serbe wurde wenige Wochen vor Antritt einer Friseur-Ausbildung in sein Heimatland abgeschoben. Das Presseamt der Stadt Müns­ter antwortete auf eine Anfrage von „kirche+leben.de“: „dass die Ausländerbehörde dabei die gesetzlichen Vorgaben zu beachten“ hatte und „dass sie keine Ausbildungsduldung mehr ausstellen darf, wenn ihr ein Ausbildungsvertrag erst vorgelegt wird, nachdem sie bereits konkrete Maßnahmen zur Beendigung des Aufenthaltes eingeleitet hat“. 

Anfang Juli traf es eine fünfköpfige Familie aus dem Iran, die in Münster-Roxel als gut integriert galt. Aufgrund der Dublin-Verordnung wurde sie nach Spanien transferiert. Dort angekommen, übernachte sie laut Flüchtlingshilfe Roxel in Madrid auf der Straße. Am selben Tag gab es in Roxel eine Mahnwache, an der auch Vertreter der Kirchengemeinde teilnahmen.

Netzwerk Kirchenasyl: „Null Versorgung in Italien und Spanien“

„Der Wind hat sich gedreht“, sagt Benedikt Kern vom Netzwerk Kirchenasyl Münster. Abschiebungen nach Osteuropa habe es vor zwei oder drei Jahren in Münster nicht gegeben. Die Spielräume der Ausländerbehörde seien enger, die politischen Rahmenbedingungen seit 2018 schärfer geworden.

Seit Monaten fänden nächtliche Abschiebungen aus der ZUE Münster statt. Sie ist in der York-Kaserne im Stadtteil Gremmendorf untergebracht. Ein Grund dafür ist die Dublin-III-Verordnung, die offenbar konsequent angewendet wird.

Ungewisses Schicksal nach der Abschiebung

Danach müssen die Menschen innerhalb von sechs Monaten in das Land zurückgebracht werden, in das sie erstmals europäischen Boden betreten haben. Dort müssen sie ihren Asylantrag stellen. Das Problem sei, „dass es in Italien und Spanien null Versorgung gibt“, so Kern. 16.000 obdachlose Flüchtlinge gebe es allein in Italien. Männer arbeiteten für 3,50 Euro Stundenlohn in der Landwirtschaft, Frauen würden in die Prostitution getrieben. In Bulgarien und Rumänien komme es zu „systematischen Inhaftierungen“ von dorthin Abgeschobenen, so Kern.

Axel Preuß (von links), Stefan Leibold und Magdalene Faber vom Flüchtlingsnetzwerk Hiltrup-Amelsbüren.
Axel Preuß (von links), Stefan Leibold und Magdalene Faber vom Flüchtlingsnetzwerk Hiltrup-Amelsbüren. | Foto: Karin Weglage

Polen schiebe sogar Folteropfer über Drittländer nach Tschetschenien ab, das wegen seiner Menschenrechtsverletzungen in der Kritik steht. Für manchen Verzweifelten sei das Kirchenasyl der letzte Ausweg, so Kern. Vier Personen lebten zurzeit unter katholischem Schutz, eine Familie im evangelischen Asyl, sagt er. Auch diese Option werde durch neuere Verordnungen schwieriger.

Flüchtlingsnetzwerk: „Leidensdruck wächst“

Anfragen auf Kirchenasyl gibt es auch in St. Clemens in Müns­ter-Hiltrup. „Wir haben aber momentan keinen Unterstützerkreis und keine Räumlichkeiten dafür“, sagt Stefan Leibold vom Koordinierungskreis des Flüchtlingsnetzwerks Hiltrup/Amelsbüren.

Der Eindruck des Pastoralreferenten ist, „dass der Leidensdruck unter den Flüchtlingen wächst, die Ausländerbehörde die Abschiebungen eher mal durchführt und nicht mehr wie früher alle Spielräume ausschöpft“.

Axel Preuß: „ZUE macht Anschein eines Hochsicherheitstrakts“

Magdalene Faber und Axel Preuß gehören ebenfalls zum Koordinierungskreis. Faber sagt, dass Flüchtlinge, die in der ZUE Abschiebungen mitbekommen, das als traumatisch erleben. Preuß hat mehrmals Menschen in der ZUE besucht. Auf ihn hat die Einrichtung den „Anschein eines Hochsicherheitstrakts“.

Um reinzukommen, müsse er „Antrag über Antrag stellen“. Betreten dürften Besucher „das Gelände nur unter Bewachung“. In die „Häuser, wo die Menschen wohnen, darf man nicht hin­ein“. Treffen könne er sich mit ihnen nur in einem Büro der Bezirksregierung oder in einem Café. „Der Schutzstatus der Menschen ist gering“, sagt Preuß. Er habe auch Schlägereien gesehen.

Die Hoffnung eines Afghanen auf den Neuanfang

Preuß berichtet über den Fall eines 30-jährigen Afghanen, den er begleitet. Frau, Mutter und Schwester seien von den Taliban getötet, der Mann selbst zusammengeschlagen worden. Im europäischen ­­­Ers­t­­­land Österreich habe er drei Jahre vergeblich um Asyl ersucht. Kurz vor der Abschiebung nach Afghanistan sei er nach Deutschland gekommen. Dort habe man ihm für 1.500 Euro eine Rücküberführung in sein Heimatland angeboten. 

Eigentlich hätte der Afghane innerhalb von sechs Monaten wieder zurück nach Österreich gemusst, eine schwere Krankheit sei dazwischengekommen. „Jetzt lebt er in Telgte – auf eigene Rechnung – und lernt Deutsch“, so Preuß. Das deutsche Asylverfahren laufe. Er wolle seinen Hauptschulabschluss machen und eine Lehre. „Danach wird er noch 30 bis 35 Jahre arbeiten“, prognostiziert Preuß. „Wir brauchen doch Arbeitskräfte.“

Magdalene Faber: „Uns vertrauen die Menschen“

Das Flüchtlingsnetzwerk Hiltrup/Amelsbüren bietet Schutzsuchenden zahlreiche Hilfen: Begegnungs-Café, Bewerbungstraining, Sprachkurs mit Kinderbetreuung,  Fahrradkurs. Viele hätten inzwischen Patenfamilien gefunden. „Wir nehmen der Kommune viel Arbeit ab“, erklärt Preuß.

„Zu uns kommen die Menschen, weil sie uns vertrauen“, ergänzt Faber. Leibold erklärt, dass die Pfarrei gern eine halbe Stelle für die Flüchtlingsberatung eingerichtet hätte. Die Stadt Münster habe dagegen erklärt, sie wolle selbst zwölf solcher halben Stellen in der Stadt einrichten. „Das liegt jetzt seit einem dreiviertel Jahr in der Verwaltung fest“, kritisiert der Pastoralreferent.

Druck und Entsetzen bei den Helfern

Die aktuelle Rechtslage stelle die Helfer unter Druck, die das Schlimmste abzufedern versuchten. „Doch nicht nur der Druck nimmt zu, sondern auch das Entsetzen bei den Ehrenamtlichen“, sagt Faber. „Die Kirche hat die große Verantwortung, Menschen zu sehen und nicht nur Fälle.

Die Bibliothekarin der Stadtteilbücherei von St. Clemens begleitet einen jungen Mann, der schwer traumatisiert ist. „Ich bewundere seine Kraft, hier ankommen zu wollen“, sagt sie.

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