Christophorus-Haus in Münster bietet solchen Menschen Halt

Wie Alkohol einen 80-Jährigen aus dem geregelten Leben fallen ließ

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Jürgen Gregers Leben lief normal. Das dachte er lange Zeit. Doch seine Alkoholkrankheit brachte den Ingenieur mit fast 80 Jahren schließlich aus dem Gleichgewicht. Im Christophorus-Haus der Bischof-Hermann-Stiftung hat er ein neues Zuhause gefunden.

Es ist einer von vielen unterschiedlichen Wegen, auf denen Menschen hier Station machen – aber ein ungewöhnlicher. Viele der etwa 30 Männer im Christophorus-Haus in Münster haben ein Leben auf der Straße hinter sich. Jürgen Greger hatte immer einen festen Wohnsitz, Arbeit, ein geregeltes Leben. Ihn führte seine Alkoholerkrankung erst mit fast 80 Jahren in dieses Angebot der Bischof-Hermann-Stiftung, dem sogenannten Langzeitwohnbereich.

„Es gab einfach keine andere Möglichkeit mehr“, sagt der 81-Jährige. „Ich musste aus meinem bisherigen Leben raus.“ Mit seinem Rollator ist er in den kleinen Garten des Hauses gefahren. Seit dem Sturz vor einem Jahr ist er auf das Hilfsmittel angewiesen. „Sonst bin ich fit und kann noch lange leben – toi, toi, toi.“ Er sucht ein Stück Holz, auf das er klopfen kann. Greger ist gut gelaunt, lacht viel, wenn er von seinem Leben erzählt. Lustige Episoden gibt es darin viele, der tragische Hintergrund war ihm lange nicht bewusst.

Alkohol im Gepäck

„Genau dort habe ich das Saufen gelernt“, sagt er etwa, wenn er an seine Lehrlingszeit als Maurer zurückdenkt. „Auf den Baustellen stand immer eine Kiste Bier.“ Kein exzessives Trinken war das damals, als er 16 Jahre alt war. Aber ein alltägliches, geselliges, eben lustiges. Was so blieb, auch als er anschließend studierte und Bau-Ingenieur wurde.  Bei seinen Fahrten zu Baustellen in ganz Deutschland gehörte der Alkohol in sein Reisegepäck. „Nur so viel, dass keiner wahrnahm, wie wichtig der für mich geworden war.“

Er war ein gefragter Ratgeber, half Polieren und Bauleitern bei der Organisation ihrer Baustellen. „Da hat mir nie jemand gesagt, dass ich zu viel trinke.“ Kein Grund also, es infrage zu stellen. Auch bei seiner Mutter hatte der Alkohol eine wichtige Rolle im Alltag gespielt. Das Bier oder auch mal der Cognac waren immer ganz normale Begleiter gewesen. „Wieso sollte das bei mir anders sein?“

Warnungen überhört

Wenn er das sagt, lacht er nicht. Er weiß mittlerweile von der schweren Vorbelastung solcher Erfahrungen. Er schaut dann zu Boden, sein Blick ist ernst. Bis er mit dieser Haltung aneckte, vergingen viele Jahre. „Zu viele Jahre.“ Eine Zeit, in der sich das alles verfestigte. Der Alkoholkonsum wurde mehr, die Heimlichtuerei schwerer. Erst seine Frau wurde irgendwann konkret. „Du trinkst zu viel!“ Ihre Worte passten damals nicht in seine Wirklichkeit. „Sie muss sehr unter meinen benebelten Zuständen gelitten haben“, sagt Greger. „Aber für mich lief ja alles gut.“ Für ein Umdenken bei ihm reichte ihre Warnung deshalb nicht. Auch nicht, als sie ihn verließ.

Als er seine zweite Frau heiratete, war er bereits Mitte 50. „Ein Mann mitten im Leben, mit Freunden, Spaß an der Arbeit und in der Freizeit.“ Der Alkohol blieb Begleiter, auch als er in Rente ging. Er war weiter auf Baustellen unterwegs, half Freunden und ehemaligen Kollegen. „Mein Rat war immer noch gefragt.“ Nie wäre er auf die Idee gekommen, dass da etwas schieflief. Bis seine Frau die Situation des ständigen Trinkens nicht mehr ertrug.

Seine Frau ergriff die Initiative

„Wir müssen etwas tun“, sagte sie zu ihm. Das rechnet er ihr hoch an. „Sie hat ‚wir‘ gesagt!“ Er hebt den Finger und erklärt: „Aus so einer Situation kommst du allein nicht raus – sie hat sich mit mir gemeinsam aufgemacht.“ Sie gingen zum Arzt, der seine Suchterkrankung das erste Mal dokumentierte. Was noch keine Kehrtwende war. Er hatte das Problem jetzt zwar schwarz auf weiß, eine Lösung war das aber noch nicht. „Eigentlich ging das ins eine Ohr rein und aus dem anderen Ohr wieder raus.“

Bei seiner Frau war das anders. „Sie konnte einfach nicht mehr und knüpfte gemeinsam mit dem Arzt den Kontakt zum Christophorus-Haus.“ Vor knapp zwei Jahren zog er ein. Ein paar Koffer mit Kleidung brachte er mit. Und die alte Standuhr, die in seiner Familie schon seit Generationen weitervererbt wurde. Er brauchte nicht mehr, sein Zimmer war vollständig möbliert. Alles andere blieb bei seiner Frau in der Wohnung.

Der Schnitt nach 80 Jahren

Es war ein guter Schnitt, sagt Greger. „Endlich, mit fast 80 Jahren.“ Weil sich seine Situation in vielen Dingen zum Guten entwickelte. „Hier wurde mir vieles abgenommen, ich musste nicht mehr alles selbst organisieren, konnte mich auf mich konzentrieren.“ Kein Verstecken, kein Verheimlichen, keine Lügen mehr. Er sagt, dass er in seinem Zimmer mit dem Balkon endlich einmal zur Ruhe kam. „Zum ersten Mal in meinem Leben.“

Das hat viele Gründe. Er ist in ein Haus gekommen, in dem seine Situation keine gesellschaftliche Randerscheinung ist. Lebensbrüche wie die seinen sind keine Ausnahmen. Alle Bewohner hier kennen Krankheit, Orientierungslosigkeit und fehlenden Halt. Das hilft, ehrlich zu sein – zu sich und zu den anderen. Greger sitzt gern mit anderen Bewohnern auf der Terrasse, raucht seine Pfeife und trinkt ein Bier.

Alkoholkonsum besser kontrollieren

Das gehört zum Konzept des Hauses: Die Männer dürfen weiter Alkohol konsumieren. Der Rahmen dafür ist aber ein anderer, als sie ihn aus ihrem bisherigen Leben kannten. Es gibt eine medizinische Betreuung. Und die Sozialarbeiter achten auf die Mengen, registrieren Abstürze und suchen das Gespräch. Allein diese Offenheit hilft vielen, ihre Suchtkrankheit besser kontrollieren zu können.

Auch Greger hat keinen Entzug hinter sich. „Ich war nie trocken.“ Aber mit der neuen Situation im Christophorus-Haus konnte er seinen Alkoholkonsum deutlich reduzieren. „Vielleicht mal ein Bier, aber keine harten Sachen mehr.“ Von ihm ist der Druck abgefallen, eine Fassade aufrechterhalten zu müssen. Jeder hier kennt das irgendwie selbst, was Greger hinter sich hat.

Ehefrau kommt zu Besuch

Und er kennt die Geschichten seiner Mitbewohner. Er hört sie beim Pfeife-Rauchen oder beim gemeinsamen Kegeln. Die meisten haben Zeiten ohne Obdach hinter sich. Das Haus der Wohnungslosenhilfe der Bischof-Hermann-Stiftung liegt nicht weit entfernt. Aus der dortigen akuten Hilfe kommen nicht wenige hierher, um eine längerfristige Perspektive zu finden. Wie auch aus den vielen anderen Einrichtungen der Stiftung. Die Vernetzung ist wichtig, das System durchlässig.

Dass seine Ehefrau seinen Einzug organisierte, war außergewöhnlich. Auch, dass sie ihn weiter regelmäßig besucht. Der Schnitt, den er damals machte, war kein Bruch mit seinem vorherigen Leben. „Ich weiß, dass sie mich nicht loswerden wollte, sondern dass wir einen Weg finden mussten, wie es weiter funktionieren konnte.“

Greger zahlt selbst

Diesen Weg haben sie gefunden. Er ist Selbstzahler, kann mit seiner Rente für einen Teil des Tagessatzes von 72 Euro aufkommen. Auch das unterscheidet ihn von vielen seiner Mitbewohner. Ein Großteil der Kosten übernimmt die Stadt Münster. Greger sagt, dass er sich oft so fühlt, als lebe er in einer ganz normalen Pflege-Einrichtung. Die anderen Bewohner nennt er dann „Patienten“, die Sozialarbeiter „Pfleger und Schwestern“.

Will er noch einmal weg hier? „Eigentlich nicht“, sagt er. „Warum auch?“ Er hat von Männern gehört, die über 30 Jahre hier wohnten. Er lächelt. „Kein Wunder, hier bekommst du drei Mahlzeiten, dein Zimmer wird gereinigt, deine Wäsche gewaschen.“ Er hat immer Ansprechpartner, kann sich aber auch zurückziehen. Dann schaut er gern Sport im Fernsehen. „Ich habe selbst lange Hand- und Basketball gespielt.“

Aufgewacht aus einem Alptraum

Für Greger ist das alles ein „großes Glück“ nach einem langen Lebensweg, auf dem er nie auf die Idee gekommen wäre, dass er eine solche Unterstützung einmal nötig haben würde. „Du hörst aber bei allen hier, wie schnell so etwas gehen kann.“ Bei dem einen ist es der große Schicksalsschlag, bei anderen eine schleichende Entwicklung mit vielen Rückschlägen. Bei Greger war es wie ein Aufwachen nach einem langen Alptraum, vor allem für seine Mitmenschen. „Jetzt geht es uns allen besser.“

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