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Enttäuschung spricht aus jenen Worten, die Domkapitular Anton Buchholz am 25. Dezember 1919 in sein Tagebuch eintrug: „Neue Krippe vom Bildhauer Holtmann, sub turri. Ist mir zu groß“, urteilte der geistliche Herr, dessen lateinische Worte mit „unter dem Turm“ zu übersetzen sind. Im Gegensatz zum heutigen Figurenprogramm konnte Anton Buchholz vor 100 Jahren nur Maria und Josef, das Kind in der Krippe, drei schwebende Engel, zwei Hirten, zwei Schafe sowie den großen Stall in Augenschein nehmen, da sich die Vollendung der Osnabrücker Domkrippe noch zehn lange Jahre hinziehen sollte.
Die Presse teilte die Skepsis des Domkapitulars nicht. Die „Osnabrücker Volkszeitung“ besprach die Premiere in der Turmkapelle geradezu euphorisch: Der Krippenüberbau füge sich als eine „in streng romanischem Stil gehaltene Ruine“ harmonisch in die neoromanische Kapellenarchitektur ein. Deren Säulen, Kapitelle, Leibungen und Bogenstellungen belegten, wie feinsinnig sich der Künstler in den Geist und den Stil der vom 1912 verstorbenen Dombildhauer Heinrich Seling geschaffenen Marienkapelle eingefühlt habe.
Ausstattungen an Niederrhein
Die lieblich-zarten Krippenfiguren wirkten stilistisch weniger streng, was „dem auf das Weihnachtsgeheimnis eingestellten Volksempfinden“ entgegenkomme – insbesondere die „sinnige“ Darstellung der Mutter Gottes, des Jesuskindes und der Engel. Gesteigert werde diese Wirkung durch die „günstige“ Beleuchtung und die „bei unserm heimischen Meister Ludwig Wiegard in guten Händen“ liegende farbige Gestaltung der Figuren, heißt es in der Kritik vom 25. Dezember.
Fünf Jahre zuvor war der bekannte und erfolgreiche Künstler Jakob Holtmann 51-jährig von Kevelaer nach Osnabrück gezogen, um hier nicht zuletzt auf Wunsch von Bischof Wilhelm Berning die Nachfolge Heinrich Selings anzutreten und dessen Werkstatt an der Herderstraße zu übernehmen.
Krippen aus Holz und Gips
Jakob Holtmann war bereits mit historistischen Kirchenausstattungen vor allem am Niederrhein in Erscheinung getreten und hatte neben seinen in Holz geschnitzten Weihnachtskrippen auch Vorlagen für Gipskrippen geliefert. Diese produzierten bereits um 1900 vor allem die „Katholischen Volkskunst Anstalten“ (KVA) in Kevelaer.
Nach diesen Modellen wurden die Ausführungen der Kirchengemeinden St. Nikolaus in Ankum, Herz Jesu in Wuppertal-Elberfeld, St. Elisabeth Neuss-Reuschenberg, St. Dionysius Duisburg-Alt-Walsum, Heilige Familie Dortmund-Brünninghausen und St. Jean-Baptiste Prez-vers-Noréaz in der Schweiz gegossen.
Große Nachfrage bei armen Gemeinden
In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war die Nachfrage nach farblich gefälligen, dem volksfrommen Geschmack entgegenkommenden Krippen groß. Vor allem weniger begüterte Kirchengemeinden entschieden sich für die günstigeren, seriell hergestellten Gipsvarianten, die in katalogartigen Fotoalben ausgewählt wurden und in Figurenhöhen von 30 Zentimeter bis zu einem Meter erhältlich waren. Weil die Besteller ihren persönlichen Vorlieben folgten, orderten sie bisweilen Krippenensembles nach Vorlagen unterschiedlicher Künstler.
Die früheste derzeit nachweisbare, meisterhaft geschnitzte Holzkrippe schuf Jakob Holtmann zwischen 1904 und 1911 für die katholische Kirchengemeinde St. Maximilian in Duisburg-Ruhrort, während der äußerst populäre Kevelaerer Kirchenmaler Friedrich Stummel sie mit seinem Schüler Hermann Sensen farblich in Szene setzte. In Münster geboren und in Osnabrück aufgewachsen, machte sich Stummel nicht zuletzt mit Entwürfen für Kirchenfenster einen Namen, die die Kevelaerer Glasmalerei Derix für viele Kirchen Westfalens, des Rheinlandes und Niedersachsens ausführte.
Holtmann lieferte auch nach Coesfeld
Kostspieligere Holzkrippen lieferte Jakob Holtmann in den 1920er Jahren auch an die Kirchengemeinden St. Johannes Baptist in Lette bei Coesfeld, St. Alexander in Wallenhorst und Herz Jesu Lehe im Emsland. Letztere könnten bei dieser Bestellung durch die Domkrippe in Osnabrück angeregt worden sein, bei der es sich ihrerseits um eine vergrößerte Ausführung der Ruhrorter Variante handelte. Und deren grundlegende Gestaltungsidee deutet sich bereits bei den Reliefs im 1892 vollendeten Hochaltar Holtmanns für das Kloster Kamp in Kamp-Lintfort an, die von niederländischen Malern des 16. Jahrhunderts inspiriert sind.
Oft zog sich die Vervollständigung einer Kirchenkrippe über Jahre hin, was sich im Fall der Osnabrücker Domkrippe in Anton Buchholz‘ Tagebuchaufzeichnungen widerspiegelt. Nachdem sich der Domkapitular mit der Größe der Figuren arrangiert hatte, gehörte er in den folgenden zehn Jahren zu den eifrigsten Spendensammlern zur Finanzierung neuer Figuren.
Die Klage des Dompropstes
Diese stagnierte während der Inflationszeit, wobei der Domkapitular am Neujahrstag 1923 frustriert mit Kritik am Bischof notierte: „Mich wundert´s, dass die Krippe im Dom nicht auf Abbruch verkauft wird. Denn Tag und Nacht brennt kein Lichtlein davor, weil nun der ‚Gottoberste‘ meint, nur durch schwarze Finsternis an der Krippe und seinem Gehirn könnten die Herzen der Gläubigen gerührt werden, für die Beleuchtung zu sorgen. Es ist zum Weinen. […] Die Kinder, welche in rührender Einfalt Heiligenbildchen zur Krippe bringen, starren in die Dunkelheit, ohne das Göttl. Kindlein erspähen zu können.“
Am 5. Januar 1925 bedauerte der Domkapitular, dass die Heiligen Drei Könige noch immer fehlten. Erst die Jahre 1927/28 brachten die Wende: Ein Modell der Domkrippe berührte die Gottesdienstbesucher im Osnabrücker Dom, und Kollekten sowie persönliche Haussammlungen erbrachten schließlich die Mittel für die drei Weisen aus dem Morgenland und ihr Gefolge, die dann 1928 ergänzt wurden.
Nachdem der Katholische Mütterverein zum Weihnachtsfest 1929 mit einer im Duktus gegenüber den älteren Figuren durchaus moderner wirkenden Frau, die einen Esel an der Leine führt, den Schlusspunkt gesetzt hatte, frohlockte Anton Buchholz: „Die Krippe ist vollendet.“
Gipskrippen aus Kevelaer
Zu diesem Zeitpunkt hatten nicht nur Holtmanns Kollegen Pietro Mazzotti in Münster und Ludwig Nolde in Osnabrück längst eine neue, expressive Formensprache entwickelt. Beide sind derzeit mit den Holtmann-Schülern Walter Mellmann und Georg Hörnschemeyer sowie weiteren Zeitgenossen in der aktuellen Weihnachtsausstellung „100 Jahre Domkrippe – Der Bildhauer Jakob Holtmann in seiner Zeit“ im Diözesanmuseum Osnabrück vertreten. Einblicke in die Herstellung und den Vertrieb von Gipskrippen aus Kevelaer sowie Entwürfe Friedrich Stummels für Weihnachtsdarstellungen in Kirchenfenstern runden die Ausstellung ab.
Die Krippenausstellung in Osnabrück
Die Krippenausstellung ist zu sehen im Osnabrücker Diözesanmuseum, Domhof 12. Eine Führung mit Professor Gerhard Lohmeier findet am 30. Januar um 17.30 Uhr statt.
Am 9. Januar spricht Ausstellungskuratorin Friederike Dorner um 18 Uhr im Rahmen der Reihe „Kunst in Kürze“ zum Thema: „Auf Spurensuche: Vorbilder der Domkrippe“. Informationen unter Telefon 0541 318-481.