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Was tun, wenn Verbandspatronen oder anderen Vorbildern gravierende Fehler nachgewiesen werden? Was heißt das für das Handeln früherer Bischöfe in Missbrauchsfällen? Und was sagt das über den Umgang von Kirche und Gesellschaft mit Schuld? Kirche+Leben fragt den Theologen und früheren ZdK-Chef Thomas Sternberg.
Herr Sternberg, die KjG im Bistum Münster findet den KjG-Patron Thomas Morus problematisch; er habe „Protestant*innen systematisch verfolgen und hinrichten“ lassen. Die Münsteraner haben sich bereits von ihm distanziert, nun soll auch der Bundesverband darüber nachdenken. Zu Recht?
Ich halte das für eine bedenkliche Verächtlichmachung einer herausragenden Persönlichkeit. Es würde mich interessieren, auf welche konkreten Taten und Daten sich die Einschätzung des Diözesanverbands bezieht. Ja, unter dem brutalen englischen König Heinrich VIII. sind Protestanten verfolgt worden, und Thomas Morus war sein Lordkanzler. Aber Hinrichtungen auf Veranlassung von Thomas Morus hat es nach meiner Kenntnis nicht gegeben. Schließlich hat der König seinen ehemaligen Kanzler wie viele andere enthaupten lassen. Ich habe mich für Vorträge ausführlicher mit ihm beschäftigt; er ist Patron meiner Heimatstadt Lennestadt im Sauerland.
Sie sagen aber selbst: Thomas Morus war Heinrichs Lordkanzler. Kann man ihn da einfach aus der Verantwortung entlassen oder gibt es eine gemeinsame, eine Art Regierungsverantwortung?
Die Bewertung von Thomas Morus an der Frage des Umgangs mit Reformatoren festzumachen, finde ich unangemessen. Ich empfehle, sich mit der gesamten Persönlichkeit zu beschäftigen. Der Familienvater Thomas Morus hat unbeugsam zu seinen christlichen Werten gestanden, hat sich deswegen auch gegen seinen König gestellt und ist hingerichtet worden. Es lohnt sich sehr, sein Hauptwerk „Utopia“, den Namensgeber alle späteren Utopien, zu lesen. Das ist nicht nur kritisch und sozialreformerisch, sondern hat auch einen wunderbar satirischen Ton.
Wie soll man mit Menschen früherer Jahrhunderte – zumal mit Heiligen – umgehen, die den Werten und Vorstellungen ihrer Zeit gefolgt sind?
Sich genau das klarmachen und genau hingucken. Thomas Morus ist 1935 heiliggesprochen worden, nach ausführlicher Prüfung im Vatikan. Das war damals ein Zeichen für die Freiheit des Geistes und gegen den Totalitarismus, während in Deutschland die Nationalsozialisten herrschten. In der Bewertung historischer Figuren nehme ich heute geradezu ein Vergnügen wahr, bedeutende Persönlichkeiten auf ein kleines, zeitgeistiges Maß zurechtzustutzen.
Ist es legitim, mit heutigen ethischen Maßstäben das Handeln früherer Zeiten zu beurteilen? Das ist ja auch Thema mit Blick auf Geistliche, die falsch mit Fällen von sexuellem Missbrauch umgegangen sind.
Thomas Sternberg aus Münster war von 2015 bis 2021 Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), der obersten gewählten Vertretung der katholischen Laien. Heute ist er Präsident der Kunststiftung NRW in Düsseldorf, einer Einrichtung des Landes Nordrhein-Westfalen.
Menschen urteilen immer nach ihren aktuellen Maßstäben, deshalb bin ich mit allzu raschen Verurteilungen früheren Verhaltens vorsichtig. Ich bleibe dabei, Reinhard Lettmann und Heinrich Tenhumberg für bedeutende Bischöfe in der Geschichte des Bistums Münster zu halten. Natürlich darf man die Fehler, die sie gemacht haben, nicht kleinreden; überhaupt nicht. Aber man muss die Umstände sehen, unter denen sie entschieden und gehandelt haben. In dem weit bedeutenderen Fall von Thomas Morus macht das die KjG nicht hinreichend.
Wenn man argumentiert „Früher hat man das anders bewertet“, wo bleibt die Empathie für Opfer und Betroffene?
Diese Empathie ist außerordentlich wichtig. Man darf Verbrechen nicht beschönigen, auch ihre Vertuschung nicht. Um in der Gegenwart zu bleiben: Noch in den 1980er Jahren haben Gesellschaft und Wissenschaft die sexuellen Verbrechen an Kindern anders bewertet als wir heute. Das muss man sehen, so schlimm das auch ist. Wobei genauso wichtig ist: Die Taten bleiben empörend skandalös und waren schon zur damaligen Zeit gravierende Verstöße gegen die Grundsätze und Gebote der katholischen Kirche.
Nicht nur Münster diskutiert, wie man mit Gräbern von Bischöfen umgeht, die Fehler im Umgang mit Missbrauchstätern gemacht haben. Haben Sie eine Idee?
Ich kann mir gut vorstellen, mit einer Tafel darauf hinzuweisen. Ich finde es aber problematisch, diese Bischöfe in der Gesamtbetrachtung nachträglich pauschal schuldig zu sprechen, zumal sie sich nicht mehr wehren können. Münsters Bischöfe haben selbst keine Missbrauchstaten verübt, sondern sind als Verantwortungsträger falsch mit Tätern umgegangen. Das ist ein gravierender Unterschied beispielsweise zum Bistum Essen, wo es Tatvorwürfe gegen den Gründerbischof Franz Hengsbach gibt. Ich kenne den Fall nicht im Detail. Aber wenn das Bistum sich entschließt, den Stand in dieser Weise öffentlich zu machen, gehe ich davon aus, dass das ausreichend begründet ist.
Zurück zur Bewertung von Heiligen wie Thomas Morus. In Seligen und Heiligen – meist ja Geistliche – stellt die Kirche fehlbare Menschen auf einen ziemlich hohen Sockel. Ist in ihrer Verehrung überhaupt Platz für Schuld und Versagen?
Da möchte ich widersprechen: Wie Thomas Morus waren die meisten heiligen Frauen und Männer keine Geistlichen. Gerade bei Selig- und Heiligsprechungen jüngerer Zeit geht es oft darum, eine Haltung herauszustellen, die sich nicht selten gegen die Mächtigen wandte und im besten Sinn alternativ war. Denken Sie nur an Anna Katharina Emmerick oder Schwester Maria Euthymia im Bistum Münster. Ehe jemand seliggesprochen – besser ist der Ausdruck „kanonisiert“ – wird, wägt die Kirche ab: Ist eine bestehende Verehrung legitim und kann sie empfohlen werden? Ist ein Leben so verlaufen, dass angenommen werden kann, ein Mensch hat sein Ziel erreicht? Dabei wird auch auf Schuld und Versagen geschaut, aber immer unter der Annahme eines barmherzigen Gottes. Denn klar ist: Kein Mensch, auch kein heiliggesprochener, war ohne jeden Fehl und Tadel.
Was raten Sie Verbänden, Pfarreien und Initiativen, die mit Blick auf ihre Patrone oder Namensgeber Bedenken bekommen?
Sich sorgfältig historisch zu informieren, was das Faszinierende an der Person war, ohne sich auf die Fehlersuche zu konzentrieren. In der Regel wird man ein anderes Leben kennenlernen, als es heutige Glücksvorstellungen versprechen. Man sieht dann viel mehr als womöglich irritierende Details.
Das Bekenntnis von Schuld spielt im christlichen Glauben eine wichtige Rolle. Warum tut sich die Kirche so schwer, zu Fehlern ihrer „Großen“ zu stehen? Was ist zu tun?
Ich glaube, wir haben in Kirche und Gesellschaft generell unser Verhältnis zu Schuld, Vergebung und Buße verlernt. Ein Vergehen wird nicht dadurch verharmlost, dass wir als Christen sagen: Vergebung ist möglich. Uns ist das Sakrament der Beichte fast verloren gegangen. Ich finde, die Kirche sollte sich wieder eingehender damit beschäftigen, wie man mit Schuld umgehen und einen Weg zur Erneuerung finden kann. Ich erlebe heute eine Gesellschaft der Selbstgerechten, die aus ihrer zeitgebundenen Haltung historische Zusammenhänge bewertet und aburteilt. Nochmal: Es geht mir nicht um eine Relativierung von Vergehen und Verbrechen. Ich werbe aber dafür, die jeweilige Zeit wahrzunehmen. Und für Geradlinigkeit und Glaubenstreue, für visionäres Denken und freudige Zuversicht bleibt Thomas Morus ein großes Vorbild – auch für die KjG.