Lexikon des Judentums (2)

Wie Juden fasten – im weißen Kittel und ohne Lederschuhe

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Wissen ist das beste Mittel gegen Vorurteile und Antisemitismus! Zum Jubiläum „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ erläutert diese Serie Begriffe jüdischen Glaubens – diesmal von Clemens Leonhard, Professor für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster.

Wenn Sie bereit sind, über Ihre persönliche Praxis Auskunft zu geben, fragen Sie einen jüdischen Bekannten oder eine jüdische Bekannte, wie und warum sie fasten. Die Antwort wird sich vom Folgenden teilweise unterscheiden, teilweise damit übereinstimmen.

Fasten kann eine individuelle religiöse Maßnahme sein, zum Beispiel zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang zum Jahrestag des Todes eines Elternteils. Fasten ist Praxis. Die Praxis des Fastens kann eine Gruppe voraussetzen, die die Rahmenbedingungen setzt und den Vollzug unterstützt. Die Praxis macht umgekehrt Zugehörigkeit Einzelner zur Gruppe erfahrbar. Diejenigen, die vom Fasten nicht ausgenommen sind, wie zum Beispiel Kinder oder Kranke, halten es nach den religiösen Regeln der Gruppe.

 

Der Versöhnungstag

 

Der wichtigste Fasttag ist der Versöhnungstag im Herbst. Das Fasten erstreckt sich von Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang und erfordert daher, etwas mehr als 24 Stunden ohne zu essen oder zu trinken und ohne Annehmlichkeiten des täglichen Lebens zu verbringen. Der Verzicht auf das Tragen von Lederschuhen – als Luxus – und das Anlegen eines weißen Kittels sind zu traditionellen Symbolen geworden.

Außer wenn der Versöhnungstag auf einen Sabbat fällt, ist Fasten am Sabbat und an Festen ausgeschlossen. Für viele jüdische Menschen tritt zum Versöhnungstag der Neunte Av im Sommer als Tag der Erinnerung an die Zerstörung des Tempels in Jerusalem (im Jahr 70), zu der andere Katastrophen, die das Volk Israel erlitten hat, hinzugedacht werden. Zudem gibt es weitere Fasttage im Jahreskreis.

 

Am Vortag des Pesach

 

Wenn man nicht auf den Vortag vor dem Pesach die Feier des Abschlusses des Studiums eines Talmud-Kapitels ansetzt und der Tag nicht auf einen Sabbat fällt, besteht der Brauch für Erstgeborene, am Vortag des Pesach vom Sonnenaufgang an zu fasten. Nach dem biblischen Buch Exodus (vgl. 12,29) werden die Erstgeborenen Israels durch die Feier des Pesach vor dem Tod gerettet. Das Fasten wird in diesem Fall zum Gedenken an einen historischen Wendepunkt der Geschichte Israels gehalten.

Die Fastenden können aus der Tradition Bedeutungen der Praxis gewinnen. Das Fasten kann einerseits als äußere Handlung verstanden werden, die ein Ausdruck der inneren Haltung einer aufrichtigen Umkehr ist. Andererseits kann es als Praxis im Gefolge der prophetischen Kultkritik (Jesaja 58) infrage gestellt werden, zum Beispiel wenn es dem Vollzug von Wohltaten gegenübergestellt wird.

 

Diskussion der Fastentage

 

Das Fasten kann auch als Konkurrenz zum Studium der Traditionstexte begriffen werden. Manche Gelehrte haben diese Konkurrenz zugunsten des Studiums entschieden.

Im Judentum als lebendiger Religion werden Gründe für und gegen traditionelle Fasttage, Details der Fas­tenpraxis oder auch die Einführung neuer Fasttage erörtert. Der aschkenasische Oberrabbiner Israels, David Lau, hat im Sinn der alten jüdischen Tradition, zu Zeiten der Not gemeinschaftliche Fasttage zu halten, im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie zweimal (für den 25. März 2020 und den 21. Januar 2021) zu einem Fasten- und Gebetstag aufgerufen.

Der Autor
Professor Clemens Leonhard
Clemens Leonhard ist Professor für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt unter anderm die Liturgie des Judentums.

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