Fazit nach 16 Jahren Politik mit der Bundeskanzlerin

Wo steht die Kirche am Ende der Merkel-Ära, Prälat Jüsten?

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Der Status und die Glaubwürdigkeit der Kirchen in Deutschland werden nach Ansicht von Prälat Karl Jüsten zunehmend hinterfragt. Gründe dafür seien eine allgemeine Säkularisierung und der Missbrauchsskandal, sagte der Vertreter der katholischen Bischöfe im politischen Berlin am Dienstag im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Er zeigte sich dennoch zuversichtlich, dass die katholische Kirche weiterhin ihre Sicht in die Politik einbringen kann.

Herr Prälat, Sie verfügen über reiche Erfahrung im politischen Berlin mit mehreren Regierungswechseln. Wo stehen wir jetzt?

Am Ende der Ära Merkel. Sie hat das Land über 16 Jahre in wechselnden Konstellationen sehr gut regiert und mit ihrem sachlichen Politikstil geprägt. In der Bevölkerung hat sie sich gerade auch durch die Art und Weise, wie sie in schwierigen Phasen und Krisen ihrer Regierungszeit agiert hat, großes Vertrauen und hohes Ansehen erworben. Wie bei einer so langen Regierungszeit und den umfassenden Herausforderungen in Bereichen wie dem Klimaschutz, der Digitalisierung, der demografischen Entwicklung nicht anders zu erwarten, ist die Ära Merkel aber auch mit gesellschaftlichen Veränderungen und gesellschaftlichem Wandel verbunden, die Unsicherheiten und Fragen auslösen.

Wie ist Ihr Verhältnis zur Kanzlerin?

Schon bald nach meinem Start in Berlin lud sie mich in einen Hintergrundkreis ein. Dort lernte ich sie als einen Menschen kennen, der gerne andere Meinungen hört, humorvoll, warmherzig und sehr neugierig sein kann, auch bei theologischen Fragen. In ihrer Zeit als Bundeskanzlerin durfte ich ihr in zahlreichen Fachgesprächen und Konferenzen begegnen. Wir haben ein sehr gutes, konstruktives persönliches Verhältnis, das auch Kontroversen aushält. So gab es nicht immer nur Übereinstimmungen. Bei der Corona-Politik mussten die Religionsgemeinschaften mehrmals darauf pochen, dass die Religionsfreiheit für Gottesdienste respektiert wird.

Woran machen Sie den gesellschaftlichen Wandel fest?

Ich nehme ihn in ganz unterschiedlichen Bereichen wahr: Es gibt ein viel stärkeres Bewusstsein für Fragen des Umwelt- und des Klimaschutzes. Fragen im Zusammenhang mit der Globalisierung, der Digitalisierung und der Entwicklungszusammenarbeit haben größere gesellschaftliche Relevanz. Das gesellschaftliche Verständnis von traditionellen Institutionen verändert sich. So wurde die zivile Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet. Wir wollten das nicht. Inzwischen gibt es aber auch in der Kirche Diskussionen über eine Neubewertung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften.

Wie sieht es bei der Entwicklung der Biowissenschaften aus?

Insbesondere im Bereich der Reproduktionsmedizin und der Gentechnik sehen wir die Entwicklung aus ethischer Sicht eher kritisch. Insgesamt zeigt sich, dass wir als Kirchen in bioethischen Debatten weiter gefragt und um Einschätzung gebeten werden. Bei der Diskussion über die Neuregelung der Organspende sowie beim assistierten Suizid konnten wir mit unserer Position politisch überzeugen. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Verbot geschäftsmäßiger Suizidbeihilfe werden wir diese Diskussion in der kommenden Legislaturperiode weiterführen.

Dennoch haben der gesellschaftliche Wandel und die Auswirkungen des kirchlichen Missbrauchsskandals das Standing der Kirche verändert...

Sicherlich ist die allgemeine Säkularisierung spürbar. Durch Fehler und Versäumnisse bei der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs haben sich die Menschen weiter von der Kirche entfernt. Für die Politik möchte ich dies aber nicht einfach verallgemeinern. Viele Politiker wissen, was die Kirchen an sozialen Diensten leisten. Allerdings werden die Glaubwürdigkeit und der Status der Kirchen stärker hinterfragt. Das macht uns mehr und mehr zu schaffen.

Was sagen Sie zur Forderung von Parteien, das Staatskirchenrecht weiterzuentwickeln?

Ich halte das nicht für erforderlich. Gerade mit Blick auf die Integration des Islam hat sich das Staatskirchenrecht im Kern als hinreichend offen und flexibel erwiesen.

Aus der Opposition gab es unlängst einen ersten Vorstoß zur Ablösung der sogenannten Staatsleistungen an die Kirchen. Wird das in der nächsten Legislatur zum Gesetz?

In mehreren Wahlprogrammen ist eine entsprechende Absichtserklärung enthalten. Wir halten es daher für wahrscheinlich, dass der nächste Bundestag ein sogenanntes Grundsätzegesetz auf den Weg bringen möchte, das den Rahmen für die Ablösung der Staatsleistungen in den Ländern regelt. Wir gehen davon aus, dass die Bundesländer und die Kirchen in die Beratungen über ein derartiges Gesetz einbezogen werden.

Einige Parteien streben eine stärkere Trennung von Kirche und Staat an und eine völlige Gleichstellung aller Religionsgemeinschaften.

Das Grundgesetz kennt keine Privilegierung der Kirchen. Das Zusammenspiel von Staat und Kirchen hat sich in vielen Bereichen bewährt, etwa beim Religionsunterricht, bei der Seelsorge in Gefängnissen und Krankenhäusern sowie bei der Militär- und Polizeiseelsorge. Hier gehe ich nicht von grundlegenden Veränderungen aus. Bei der Daseinsvorsorge, wie etwa Kindertagesstätten oder Altenpflege, gehören die Kirchen oft zu den wichtigsten und innovativsten Anbietern. Die Felder Zusammenarbeit von Staat und Kirche stehen allen Religionsgemeinschaften offen.

Gleich vier Parteien wollen neue Formen des Zusammenlebens neben Ehe und Familie rechtlich verankern, von der Mehrelternfamilie bis zu Vertrauensgemeinschaften. Was will die Kirche?

Wir erleben die Tendenz, dass Parteien, aber auch andere gesellschaftliche Gruppen den individuellen Wünschen des Zusammenlebens mehr Rechnung tragen möchten. Also werden wir ein bunteres Bild haben. Hier gilt es zu schauen, was in den neuen Konstellationen den Werten der Familie dient. Oberste Priorität haben für uns das Kindeswohl und das Elternrecht. Daran werden wir die Vorschläge messen.

Ist die Kernfamilie ein Auslaufmodell?

Nein. Alle Umfragen bestätigen, dass die Menschen weiter in stabilen familiären Beziehungen leben wollen. Wir müssen als Kirche stärker vermitteln, dass unsere Vorstellung von Ehe und Familie genau das will, und dass dies nach wie vor tragfähig ist und glücklich macht. Wir machen aber selbst in der Kirche die Erfahrung, dass manche Paare nicht mehr das Ehesakrament wollen. Der folkloristische Teil hat sich offenbar überlebt, das Sakrament wird stärker als existenzielle Entscheidung verstanden.

Ist das christliche Ehe- und Familienmodell dann nur noch eine Sonderform?

Die Erfahrung weist in diese Richtung. Da wir aber zutiefst davon überzeugt sind, dass unser Verständnis dem Menschen ein gelungenes Leben ermöglicht, hoffen wir auch, dass der Staat weiterhin möglichst viel davon übernimmt.

Wie kann sich die Kirche noch einbringen, wenn ihre Positionen nicht mehr mehrheitsfähig sind?

Meine Erfahrung ist: Egal unter welcher Regierungskonstellation - wenn wir eine gute Expertise haben und das, was wir sagen, dem Gemeinwohl dient, dann werden wir gehört. Dann besteht auch eine gute Chance, dass unsere Vorschläge aufgegriffen werden. Das ist Demokratie.

Themenwechsel: Bei der Aufnahme von Flüchtlingen gab es 2015 einen Schulterschluss zwischen Kirche und der Regierung Merkel. Wie entwickeln sich die Dinge jetzt, nach dem Afghanistan-Desaster?

Wir halten die Flüchtlingspolitik von 2015 nach wie vor für gut. Deutschland hat sich von der humanitären Seite gezeigt und vielen Menschen eine Perspektive geboten. Und die meisten von ihnen haben sich inzwischen gut integriert. Diese Leistung darf nicht schlecht geredet werden. An diesem humanitären Ansatz müssen wir auch im Falle Afghanistan festhalten.

Wie steht es aber um die Sorge vor einer Überforderung der Gesellschaft?

Ich glaube nicht, dass die Aufnahme weiterer Flüchtlinge aus humanitären Gründen die Gesellschaft überfordert. Grundlage sind natürlich Verfassung, Flüchtlingskonvention und Asylrecht. Wir haben auch stets auf ein geordnetes Verfahren gepocht. Deshalb dürfen wir gerade in Wahlkampfzeiten keine Ängste schüren. Ich gehe aber von einem breiten humanitären Konsens aus.

Was erwarten Sie von der kommenden Regierung beim Asyl?

Entscheidend ist ein neuer rechtlicher Rahmen in der EU. Bislang sperren sich einige Länder - selbst kirchliche Partner in einigen Ländern. Papst Franziskus ermutigt uns aber, hier hartnäckig zu bleiben.

Gleich mehrere Parteien wollen eine Liberalisierung der Abtreibungsgesetze. Rechnen sie mit einer neuen Debatte?

Wenn man sich die Wahlprogramme anschaut, ist das sehr wahrscheinlich, auch wenn wir uns das nicht wünschen. Die Kirche wird weiter für den Lebensschutz eintreten.

Kommen wir zu den Wahlen: Welche Koalition erwarten Sie?

Ganz unterschiedliche Modelle können funktionieren, schauen Sie auf die Landesregierungen. Persönlich könnte ich mir eine erneute große Koalition vorstellen, die nach meiner Überzeugung durchaus gut regiert hat. Natürlich sind auch Ampel und Jamaika-Koalition denkbar.

Die Kirche hat zur AfD ein distanziert-kritisches Verhältnis. Hat sich daran etwas geändert?

Nein.

Warum nicht?

Weil die AfD Positionen vertritt, die mit dem christlichen Menschenbild nicht vereinbar sind.

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