8. MAI

„Weiße Bettlaken an den Häusern“: 100-Jährige erinnert sich ans Kriegsende

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100 Jahre ist Schwester Thiatilde Fölling heute alt. Wie sie das Ende des Weltkriegs erlebt und versucht hat, der Jugend eine Perspektive zu geben.

Als der Zweite Weltkrieg vor 80 Jahren beendet wurde, war Schwester Thiatilde Fölling 20 Jahre alt. Die inzwischen 100-Jährige, die im Kloster Annenthal in Coesfeld lebt, ist im Stiftsdorf Freckenhorst im Kreis Warendorf aufgewachsen und hat das Kriegsende dort erlebt.

„Am Karsamstag zog morgens eine lange Schlange mit Gefangenen durch unseren Ort in Richtung Westkirchen. Sie sahen sehr hungrig aus. Wir haben versucht, ihnen etwas zu essen zu geben. Das war eigentlich verboten“, erinnert sich die Ordensfrau an den 31. März 1945. Mittags machte sich die gelernte Sparkassenkauffrau auf den Weg nach Warendorf, denn sie hatte über das Osterwochenende dort Telefondienst. Unterwegs bekam sie aus aufgeschnappten Gesprächen von Offizieren mit, dass amerikanische Panzer im sieben Kilometer entfernten Hoetmar angekommen seien. „Was sollte ich machen? Ich wollte doch beim Kriegsende bei meinen Angehörigen zuhause sein. Als ich in der Sparkasse angekommen bin, habe ich den Direktor angerufen und es ihm erzählt. Er hat mir gesagt, ich solle schnell wieder zurückfahren“, berichtet sie. So habe sie sich abermals auf den nicht ungefährlichen Weg nach Freckenhorst gemacht. Gemeinsam mit anderen habe sie sich im Keller des Nachbarhauses versteckt, als zum ersten Mal rund 40 amerikanische Panzer durch den Ort gefahren seien.

Furchtbare Armut herrschte bei Kriegsende

„Wir haben weiße Bettlaken an den Häusern befestigt. Friede war noch nicht, aber wir hatten in unserem Ort Ruhe. Allerdings wussten wir nicht, wie es in den Nachbarorten aussah“, erinnert sich Schwester Thiatilde. Gemeinsam mit der achtköpfigen Familie erlebte sie zunächst die amerikanische und später die englische Besatzung. „Ich habe damals zum ersten Mal in meinem Leben einen farbigen Menschen gesehen. Es war ein Soldat, der von einem Sessel aus den Verkehr auf einer Kreuzung am Bahnhof regelte“, sagt sie und schmunzelt.

Die Nachricht vom Kriegsende habe sie mit gleichermaßen guten und schlechten Gefühlen aufgenommen. „Es gab eine furchtbare Armut. Menschen klingelten an unserer Tür und fragten nach Brot oder Kartoffeln. Wir hatten eine kleine Landwirtschaft. Meine Mutter war so gutherzig, dass sie allen etwas gegeben hat, und wenn wir selber trockenes Brot essen mussten“, berichtet sie. Sicherlich, sie seien erlöst gewesen, aber die Sorge um die Zukunft hätte sie sehr beschäftigt. Insgesamt sei es eine entbehrungsreiche Zeit gewesen, in der sich die Familien beholfen hätten. Aus getragener Kleidung wurde neue geschneidert oder aus alten Stoffen ein Teppich gewebt. „Alles war knapp, aber langsam fing das Leben wieder an“, blickt sie zurück.

Jungen Menschen eine Perspektive geben

1949 trat sie in den Orden der Schwestern Unserer Lieben Frau ein und engagierte sich ab 1951 in Vreden. „Die Kirchen und zahlreiche Häuser waren zerstört. Das war traurig“, berichtet sie. Um den jungen Menschen eine Perspektive zu bieten, gründete sie vor Ort Interessenskreise. „Es haben alle mitgeholfen, das Jugendheim wieder herzurichten“, erinnert sich Schwester Thiatilde an die Zeit und ergänzt: „Als Ordensschwestern haben wir versucht, die jungen Menschen schon von der Schule an in den Frohschar-Gruppen aufzufangen. Wir haben viele Angebote geschaffen, die von Pfingsttreffen über Wanderungen bis hin zu einem Wochenende auf dem Bauernhof reichten.“

Aber auch eine Sing- und Musikgruppe gab es, die 70 Mitglieder zählte und den Grundstein für die heutige Musikschule in Vreden bildete. Später führten sie ihre Einsätze nach Wilhelmshaven und Büren sowie in den 1970er Jahren nach Berlin, wo sie als Religionslehrerin und Katechetin tätig war. Seit mehr als 30 Jahren lebt die Ordensfrau im Kloster Annenthal in Coesfeld.

„Sorgt dafür, dass Friede bleibt.“

Die Erinnerungen an die Kriegszeit und den Neubeginn veranlassen Schwester Thiatilde zu einem dringenden Appell an die junge Generation: „Sorgt dafür, dass Friede bleibt. Es ist ganz wichtig, dass wir miteinander sprechen, wenn wir Probleme haben, damit kein Streit entsteht. Das gilt nicht nur im persönlichen Umfeld, sondern auch unter den Nationen. Wir müssen miteinander reden, das Gute im Anderen sehen und die Demokratie stärken, wenn wir Frieden halten wollen.“

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