Münsterscher Professor für Kirchengeschichte im Interview

Angenendt für Neubewertungen in kirchlicher Sexuallehre

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Arnold Angenendt, Kirchenhistoriker und emeritierter Professor der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster, befasst sich vor allem mit dem Wandel von Mentalität und Lebensformen. Jetzt hat der 81-Jährige ein akribisch recherchiertes Buch über das Reizthema "Kirche, Liebe und Sexualität" vorgelegt. Von seiner Kirche wünscht sich der Experte ein Umdenken in der Sexuallehre.

Ihr Buch wirkt, als sei es mit einer gehörigen Portion Entsetzen geschrieben.

Das ist nicht ganz falsch. Nicht wenigen älteren Priestern graust es heute, was sie früher in Befolgung des kirchlichen Lehramtes als sexuelle Todsünden angesehen haben. Meine Mutter hat mir auf ihrem Sterbebett gesagt, dass vieles nicht richtig gewesen sei, was die Kirche den Frauen abgefordert habe.

Fangen wir positiv an: Was haben Christentum und Kirche für eine gelingende menschliche Sexualität getan?

Der derzeit große Exportschlager des Christentums ist die auf gegenseitiger Zustimmung beruhende Ehe, die sogenannte romantische Ehe. Schauen Sie sich Japan, Indien, China, die islamische Welt oder Afrika heute an: Überall werden immer noch Ehen von den Familien arrangiert, die Ehekandidaten werden selbst nicht gefragt. Das Christentum hat sich Maria und Joseph zum Vorbild genommen: Maria war laut Bibel Ehefrau und Jungfrau. Daraus wurde gefolgert, dass nicht der sexuelle Akt die Ehe begründet, sondern der Wille der Eheleute. Die freie partnerschaftliche Ehe ist das heute gültige Ideal. Bei Befragungen wünschen sich über 90 Prozent diese Form der Ehe. In der westlichen Welt allerdings scheitern 40 Prozent dieser romantischen Ehen.

Das Christentum hat aber auch alle sexuelle Lust auf die Ehe begrenzt.

Was auch dem Schutz der Frauen diente. Mit Blick auf die Sexualität hat die Natur die Frauen brutal benachteiligt. Sie sind in der Regel körperlich schwächer, konnten deshalb Opfer von Vergewaltigungen werden, riskierten bei jeder Geburt den Tod und mussten über die Jahrhunderte damit fertig werden, dass ein großer Teil ihrer Kinder starb. Ich verweise gern auf Dürers Mutter, die der Künstler ja kurz vor ihrem Tod als verhärmte Frau porträtiert hat. Sie wurde im Alter von 15 Jahren verheiratet und hat 18 Kinder geboren. Davon haben nur drei die Mutter überlebt. Griechen und Römer erlaubten den Männern, auch den verheirateten Männern, sexuelle Betätigungen außerhalb der Ehe, etwa mit Sklavinnen oder Prostituierten. Die Zähmung und Begrenzung der männlichen Sexualität im Christentum war deshalb durchaus eine große Kulturleistung.

Von Gleichberechtigung auch in christlichen Ehen kann man trotzdem nur begrenzt reden.

Das hatte auch biologische und soziale Gründe. Um die Bevölkerung zu erhalten, waren über die Jahrhunderte wegen der hohen Kindersterblichkeit mindestens vier Kinder pro Frau erforderlich. Mädchen wurden deshalb sofort nach der Geschlechtsreife verheiratet, während Männer erst eine nur im reifen Alter zu erlangende Position erwerben mussten, um die Familie ernähren zu können. Dass sogar noch 50- oder 60-jährige Männer 15-jährige Mädchen heirateten, war deshalb auch in Europa lange Normalität.

Das waren wohl kaum romantische Liebes-Ehen.

Das ist erst eine Vorstellung des 18. und 19. Jahrhunderts. Damals ging die Kindersterblichkeit zurück, auch Frauen erhielten Bildung und Ausbildung. Die Paare konnten sich auf Augenhöhe begegnen. Die Erfindung der Pille war dann die entscheidende Revolution. Seitdem müssen Frauen nicht bei jedem Geschlechtsakt Angst haben, schwanger zu werden. Das verschafft ihnen eine völlig neue Freiheit, sorgt andererseits auch für neue Zwänge mit dem Risiko der sexuellen Ausbeutung.

Welche Rolle hatte die Kirche bei dieser Entwicklung?

Das christliche Ideal der Ehe forderte Treue und personale Liebe gegenüber dem Ehepartner. Die Kehrseite war die Verdächtigung von Lust und Sexualität. Von Augustinus wurde der Liebesakt mit der Weitergabe der Erbsünde verbunden. Sexualität hatte ausschließlich den Zweck, Kinder zu zeugen. Erst das Zweite Vatikanische Konzil hat da einen Wandel gebracht und Sexualität auch als Möglichkeit begriffen, die persönliche Bindung der beiden Partner zu verstärken.

Sexualität außerhalb der Ehe ist weiter verpönt. Selbstbefriedigung und Homosexualität gelten als Sünde. Woher kommt das?

Das Neue Testament sagt nichts über vorehelichen Geschlechtsverkehr oder Onanie. Die katholische Kirche folgt immer noch der mittelalterlichen Auffassung, nach der der männliche Samen bereits den fertigen "Homunkulus", also ein kleines Menschlein, enthalte und die Frau sozusagen nur die Ackerfurche für den Samen bilde. Dies war der Grund für die Verdammung jedweder Form von "Samenvergeudung". Selbstbefriedigung, Homosexualität oder Empfängnisverhütung wurden als eine Art Mord aufgefasst. Angesichts heutiger Biologie ist das ein krasses Fehlurteil, weil die Natur bei jedem männlichen Samenerguss Millionen von Spermien vergeudet und jeder frauliche Eierstock tausende von Ova enthält.

Gilt das auch beim umstrittenen Thema Homosexualität?

Klar ist, dass Paulus Homosexualität scharf verurteilt, weil sie gegen die Natur verstoße. Die moderne Wissenschaft hat aber klar herausgearbeitet, dass die homosexuelle Orientierung als eine eigene anthropologisch gegebene Grundposition menschlicher Sexualität betrachtet werden muss – genauso wie Heterosexualität. Homosexualität kann folglich nicht als widernatürlich bezeichnet werden.

Kann die Kirche sich über ein so eindeutiges Urteil des Paulus einfach hinweg setzen?

Die Theologie hat auch gelernt, dass die Schöpfungsgeschichte im Buch Genesis nicht die naturwissenschaftliche Realität beschreibt. Spätestens seit Darwin muss man das Buch Genesis als einen Mythos bezeichnen, der eine Glaubensaussage formuliert. Es spricht also nichts dagegen, auch die Homosexualität neu zu bewerten.

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