Pfarrer Nienhaus über Passions-Beschreibungen der seligen Anna Katharina Emmerick

Experte zur Leid-Frage: „Wer Leid ausblendet, halbiert das wahre Leben“

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Ihre Visionen vom Leiden und Sterben Jesu machten Anna Katharina Emmerick (1774-1824) zur weltbekannten „Mystikerin des Münsterlandes“. An ihr zeigten sich die Wundmale Christi, sogenannte Stigmata. Was es damit auf sich hat und wie das „Phänomen Emmerick“ zu deuten ist, darüber sprach Kirche+Leben mit dem Vorsitzenden des Emmerick-Bundes, Pfarrer Peter Nienhaus von der Pfarrei Heilig Kreuz in Dülmen.

Herr Nienhaus, Verletzungen an Händen, Füßen und Körper, die den Wundmalen Jesu ähnelten, machten die Dülmener Nonne Anna Katharina Emmerick bekannt, sogar weltbekannt. Wie blicken Sie auf die Stigmata, die Wundmale?

Dass Menschen die Wundmale Jesu tragen, ist gar nicht so selten, auch heute nicht. Bei Außergewöhnlichem, zumal im religiösen Bereich, ist man oft schnell mit einem Urteil zur Stelle: Krank! Verrückt! Betrug! Es lohnt sich, genau hinzuschauen. Bei Franz von Assisi etwa wie bei Anna Katharina Emmerick sind die Stigmata ein Phänomen, das Ausdruck einer tiefen Christusbeziehung ist und Zeichen ihrer Glaubwürdigkeit.

Wie kann, darf und sollte man diese Zeichen deuten?

Anna Katharina lebte in einer leidvollen Zeit. Sie lässt sich vom Leid ihrer Mitmenschen betreffen. Und sie versteht es, alles Leid, auch das persönliche, mit Gott in Verbindung zu bringen. Aber nicht so, als habe Gott das Leid als Strafe oder Probe verordnet. Im Gegenteil: Im Meditieren des Lebens und Sterbens Jesu erkennt sie den Gott „Ich bin da“ (Ex 3,14), der sich ohne Wenn und Aber an unsere Seite stellt. Der Gott, der in Jesus Mensch wurde, steckt in unserer Haut. Vom Babyspeck bis zur Leichenstarre spart er nichts aus. So verharmlost Anna Katharina das Kreuz nicht frömmlerisch. Sie lässt sich so sehr vom Leid Jesu und der Welt in Mitleidenschaft ziehen, dass das an ihrer Außenhaut sichtbar wird.

Sind die äußeren Zeichen Merkmale der Gottesbeziehung?

Anna Katharina wird zu einer körperlichen Versehrten, da sie im ohnmächtigen und leidenden Gott den Gott der Liebe erfährt. Dementsprechend will sie dem Leid als Antwort die Liebe entgegensetzen. Und Liebe ist wehrlos, leidenschaftlich (passioniert!), solidarisch, verwundbar, nahbar. Radikal, also bis in die Wurzel hinein, schmeckt sie den fremden und unbegreiflichen Gott wie den sich nach uns verzehrenden. Wie nah ist sie da den Mystikern vor und nach ihr, wie Franziskus, Meister Eckhart, Therese von Lisieux, alle versehrt von der göttlichen Liebe, wenngleich nicht alle stigmatisiert.

Anna Katharina Emmerick wird als Mystikerin des Münsterlandes bezeichnet. Wie deuten Sie die Mystik der Seligen?

Mystik bedeutet, dass Gott erfahren wird, geschmeckt, wahrgenommen. Der Mensch ist ergriffen von Gottes Liebe, auch beschämt wegen der eigenen halbherzigen Antwort darauf. Gott wirbt um jeden Menschen. Gotterfahrene kreisen stets um das Geheimnis der „Bedürftigkeit Gottes“. Gott „begehrt“ danach, beim Menschen zu sein (Meister Eckhart). Gott „bettelt“ um unsere Liebe (Simone Weil). „Gott geht in die Knie, er lebt das Leben aus unserer Perspektive, spricht die Sprache unseres Stammelns“ (Fulbert Steffensky). Anna Katharinas Glaube an den Menschgewordenen war nicht blutleere Spekulation, sondern Vertrauen auf Gott mit Haut und Haaren, ganzheitlich, bedingungslos. Zur Mystik sind wir alle berufen.

Schon früh im Leben war Anna Katharina Emmerick durch Krankheit ans Bett gefesselt. Sie hat gelitten, hat Leid erfahren und dabei eine einzigartige Gottesbeziehung gepflegt. Wie hat Anna Katharina Emmerick vom Leiden gesprochen? Wie kann man ihren Leidensweg verstehen?

Auf die Frage nach dem Bösen und nach dem Leid bekommen wir keine Antwort. Die hatte auch Anna Katharina nicht. Aber sie weinte darüber. Der Zustand der Welt, ihres Klosters, ihre eigene Misere rührt sie zu Tränen, immer wieder. Nicht „heulsusig“, sondern realitätserschließend. Wem ist nicht immer wieder zum Heulen im Blick auf die Wirklichkeit?! Vergossene Tränen verhindern, dass die Seele absäuft. Augustinus sagt, Tränen sind das „Grundwasser der Seele“. Tränenlos sind harte Menschen. Dorothee Sölle sagte: „Ohne Tränen zu sein, das bedeutet, in einer ausdrucksarmen und gefühlsunfähigen Kultur zu leben. Wir verleugnen das Bedürfnis nach dem Geist, der tröstet und zur Wahrheit führt, wir bilden uns ein, wir könnten ohne Geist leben, ohne ausgedrückten Schmerz und ohne Trost. Wir haben die Bitte um die Gabe der Tränen vergessen.“ Anna Katharina stellt sich dem Leid. Sie weint und klagt darüber, bittet Gott, er möge ihr zumindest die äußeren Zeichen (die Stigmata) nehmen, weil sie vom Eigentlichen ablenken.

Was verstehen Sie darunter?

Das „Eigentliche“ ist das Vertrauen auf Gott trotz des Leids, im mühsamen Annehmen des Leids. Wenn Gott in Jesus selbst ein Leidender wird, dann nimmt er die Schöpfung in ihrem So-Sein an. Zur Schöpfung gehört die Erschöpfung. Anna Katharina hat gar nicht erst versucht, dem Leid davonzulaufen, das uns mühelos folgt wie ein Schatten. Aber sie hat sich mit ihrem Leidensschatten in den Schatten des Kreuzesbaumes gestellt.

Wie deuten Sie das Leiden, das uns Menschen gegeben ist? Inwiefern ist Anna Katharina da Hilfe?

Leid hat keinen Selbstzweck. Wer allerdings das Leid ausblendet, halbiert das wahre Leben, ist halbstark, also ganz schwach. Von jetzt auf gleich kann der „unheilbar Gesunde“ (Adorno) todkrank sein. Für mich geht von Anna Katharina die Ermutigung aus, auf das Leid mit Empathie zu antworten. Und sie strahlt etwas aus von der Wandlungskraft des Leids. Sie reift zu einem Menschen, der mutig Abschied nimmt von diesem Leben, nicht lebensmüde, sondern lebenshungrig, weil sie sich ausstreckt nach dem, was Gott für uns bereithält. So gesehen ist Anna Katharina eine Sterbenshilfe im Leben und eine Lebenshilfe im Sterben.

Warum ist das Leiden im Christentum und seine Erinnerung daran so wichtig?

Dem Christentum wird nicht zu Unrecht eine gewisse Leidverliebtheit nachgesagt. Die ist falsch. Aber ein Gesundheitswahn, eine Effizienz-Gepoltheit, letztlich die Todesangst ist ebenso fatal. Leidfreies Leben gibt es nicht. Statt das Leid zu verdrängen, tun wir gut daran, Solidarität und Mitgefühl zu üben, ja die Leidensarbeit der Kranken und Sterbenden, ihre Geduld und Tapferkeit zu schätzen. Mein krebskranker Vater hat mir gezeigt, wie Sterben geht. Dafür bin ich (ihm) dankbar und hoffe, einmal auch so loslassen zu können. Zu allen Zeiten gab es Menschen, die wie Jesus mit der Warum-Frage auf den Lippen doch ihrem Gott vertrauen konnten, im Leben und im Sterben.

Bevor die Christen an Ostern das Fest der Auferstehung feiern, gedenken sie der Passion Jesu. Der Leidensweg ist von Anna Katharina Emmerick in ihren Visionen gedeutet und von Clemens Brentano in seinem Werk „Das bittere Leiden unseres Herrn Jesu Christi“ festgehalten worden. Wie kann die Selige ein Vorbild sein, das Geheimnis des Glaubens, die Erlösung zu verstehen?

Dass Anna Katharina bis heute eine anziehende Wirkung hat, liegt nicht zuletzt daran, dass Erlösung für sie Realität war, persönlich erfahren. Sie wusste sich von Gott geliebt. So strahlte sie etwas von der Gewissheit aus, dass Gott sie niemals fallen lässt, schon gar nicht im Tod. Die Gewissheit um ihr Erlöstsein hat sie befreit von der Angst, sich selbst absichern zu müssen. Auch war sie frei von der Sorge, sich durch eigene Leistung den Himmel verdienen zu müssen. So konnte sie in einem nicht einfachen, leidvollen Leben doch den Anbruch des Reiches Gottes erfahren, ja selbst daran mitwirken, indem sie lebensdienlich und heilsam wirkte. Und sie bekam Geschmack und Vorfreude auf das, was als endgültige Zukunft auf sie zukommt. Das meint Erlösung.

Selige Anna Katharina Emmerick
Die Kötterstochter Anna Katharina Emmerick wurde am 8. September 1774 in der Bauerschaft Flamschen bei Coesfeld geboren. Bereits in früher Kindheit hat sie Visionen und Träume vom Leben Christi. 1802 trat sie in das Augustinerinnen-Kloster Agnetenberg in Dülmen ein. Später wurden zum ersten Mal Wundmale auf ihrem Körper sichtbar: auf der Brust zeigte sich ein Doppelkreuz, ganz ähnlich dem von Anna Katharina verehrten „Coesfelder Kreuz“, später erschienen „Stigmata“ genannte Zeichen auch an den Händen und auf der Stirn. Der Dichter Clemens Brentano zeigte sich tief beeindruckt von der Frömmigkeit Anna Katharina Emmericks und begann, ihre Visionen und Berichte aufzuzeichnen. Anna Katharina Emmerick starb am 9. Februar 1824 und wurde auf dem Stadtfriedhof von Dülmen beigesetzt. Seit 1975 ruhen ihre Gebeine in der Heilig-Kreuz-Kirche in Dülmen. Am 3. Oktober 2004 wurde sie von Papst Johannes Paul II. seliggesprochen.

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