Johannes Sabel zu zwei historischen Ereignissen

75 Jahre Grundgesetz und 28 Jahre Schoah-Gedenken - Vergessen verboten!

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Das Grundgesetz besteht seit nunmehr 75 Jahren. Es ist als Abgrenzung zur menschenverachtenden Praxis des Holocausts zu verstehen. Warum ist den Opfern des Nationalsozialismus so lange nicht gedacht worden, fragt sich Johannes Sabel und spricht von den diesjährigen Feierlichkeiten als Chance.

In Deutschland gehen wir auf die Feierlichkeiten zu anlässlich des 75. Jahrestages der Annahme (8. Mai) und der Verkündigung (23. Mai) des Grundgesetzes. Dieses Gesetz, in dem die Achtung der Menschenwürde als Dreh- und Angelpunkt der deutschen Nachkriegsordnung festgeschrieben wurde, wurde vier Jahre nach der Katastrophe des Holocausts von Konrad Adenauer am 8. Mai 1949 in Bonn unterzeichnet. Zwei Tage vor diesem bundesdeutschen Feiertag begeht Israel – seit 1951 – den „Yom Hashoah“, den „Tag des Gedenkens an die Schoah“ am 6. Mai.

Hier fallen zwei Daten eng zusammen, die aufeinander bezogen werden müssen – und deren Verhältnis zugleich eine ambivalente Erinnerungspraxis zeigt: Das Grundgesetz distanzierte sich klar von der Menschenverachtung des Nationalsozialismus. Der „große Wurf“, der den Müttern und Vätern des Grundgesetzes 1949 gelang hinsichtlich der Grundlegung einer humanen, solidarischen, demokratischen, freiheitlichen Ordnung, wurde weltweit anerkannt und ist unumstritten.

Jahrzehnte ohne öffentliches Gedenken

Der Autor:
Johannes Sabel ist Direktor der Katholisch-Sozialen Akademie Franz Hitze Haus in Münster. Studium der Literaturwissenschaft und Kath. Theologie in Münster, Promotion in Tübingen, Forschung in den USA (Leo Baeck Institute, Jewish Theological Seminary), Mitteleuropa (Krakau, Prag, Warschau) und der Schweiz (ETH Zürich) zum modernen deutschsprachigen Judentum und zur politischen Theologie.

Umso mehr mag es nachdenklich stimmen, dass es bis 1996, also 47 Jahre dauerte, bis auch in Deutschland ein explizites, öffentliches und rechtlich verankertes Gedenken an das unsagbare Verbrechen, das Deutschland an dem jüdischen Volk begangen hat, eingeführt wurde: der 27. Januar als Gedenktag an die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee 1945. Weitere neun Jahre später erklärten die Vereinten Nationen den 27. Januar zum Internationalen Gedenktag an den Holocaust. Wie ist diese Jahrzehnte dauernde Verzögerung zu erklären?

Die Opfer wurden lange vergessen

Die Konsequenz für die deutsche Gesellschaft aus Faschismus und Krieg wurde mit dem Grundgesetz schnell und gewissermaßen erfolgreich gezogen, eine gute Ordnung, ein Neuanfang waren da – man hatte vermeintlich seine Lektion gelernt. Doch man vergaß damals und noch lange Jahrzehnte die Opfer. So erhält das freudige Ereignis, ein Grundgesetz wie das bundesdeutsche zu haben, einen bitteren Beigeschmack, lag doch auch hier die Sorge um das eigene Haus so viele Jahrzehnte näher als die Wahrnehmung derer, die sich kein Gehör verschaffen konnten, der Vernichteten in deutschen Konzentrationslagern.

Dass dies nun anders ist, sich die Wahrnehmung in Deutschland geändert hat, das können wir bei den Feierlichkeiten in diesem Jahr zeigen, indem wir deutlich die Vorgeschichte unseres Grundgesetzes, die Verbrechen und die Opfer benennen, das jüdische Volk um Vergebung bitten und ihm unsere Freundschaft und Loyalität zeigen.

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