Ethik-Expertin Ursula Nothelle-Wildfeuer im Kirche+Leben-Interview zur Abtreibungs-Debatte

„Lebens-Schutz vor Lehre-Schutz – dann ist Kirche glaubwürdig“

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Frankreich und EU-Parlament wollen Abtreibung als Grundrecht, in Deutschland wird eine Liberalisierung diskutiert. Die Theologin Ursula Nothelle-Wildfeuer analysiert im Kirche+Leben-Interview diese Entwicklung – und die Chancen der Kirche, dabei noch eine Rolle zu spielen.

Frau Nothelle-Wildfeuer, wie erklären Sie es sich, dass Abtreibungen in Europa und damit auch in Deutschland derzeit politisch so massiv zum Thema werden?

Im Vordergrund steht meines Erachtens die Frage nach dem Recht der Frau auf ihren eigenen Körper und auf ihre autarke Entscheidung. Es geht letztlich um eine Frage der Freiheit, die gegenwärtig eine zunehmend wichtige Rolle spielt. Dabei ist es eine Signatur unserer Zeit, dass Freiheit zunehmend fokussiert wird auf die eigene Freiheit. Oft wird sie nicht als Selbstbindung verstanden, die Verantwortungsdimension gerät in diesem Fall in den Hintergrund.

Die aktuelle Debatte um die Abtreibung ist sicher auch eine Gegenreaktion auf das in der Abtreibungsfrage immer noch spürbare Bemühen der Kirchen um entsprechenden Einfluss, der aber aufgrund ihres Glaubwürdigkeitsverlustes zunehmend schwindet. Es geht folglich um ein Kräftemessen zwischen Religion / Kirche und Staat / Gesellschaft und letztlich um die Forderung nach einer deutlicheren Trennung von Kirche und Staat.

Angeheizt wird die Debatte auch durch Aktionen wie den „Marsch für das Leben“. Zugleich ruft auch hierzulande die amerikanische Pro-Life-Bewegung eine gewisse Abwehrreaktion hervor. Es handelt sich um Initiativen, die in ihrer Wirksamkeit für den Lebensschutz zumindest fragwürdig, wenn nicht sogar kontraproduktiv sind – und vor diesem Hintergrund scheint das ganze Thema nun neu aufgerollt zu werden.

Wie bewerten Sie die Entwicklung?

In dieser Entwicklung kommt das ungeborene Leben als eigenständiges schützenwertes Gut in keiner Weise mehr zur Geltung. Das ist besonders merkwürdig, wenn man bedenkt, dass beispielsweise der Ultraschall so genau wie noch nie das pulsierende Leben zeigen kann. Es scheint die Güterabwägung zwischen dem Wert der Freiheit der Frau und dem Schutz des Lebens des Kindes weitgehend wegzubrechen. Von einer Abwägung allerdings kann nur dann die Rede sein, wenn man sich bewusst bleibt, dass zwei ungleiche Güter einander gegenüberstehen. Denn das Recht auf Leben ist das fundamentalste Recht, ohne das andere Rechte gar nicht realisiert werden können. Wenn man diese Entwicklung als Indiz für die ethische Sensibilität unserer Gesellschaft ansieht, dann steht es um diese nicht gut.

Welche Rolle oder Aufgabe kommt der offiziellen katholischen Position in der Debatte noch zu, wie relevant, wie effektiv ist sie noch?

Im Gespräch
Ursula Nothelle-Wildfeuer ist Professorin für Christliche Gesellschaftslehre an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Freiburg. Von 2001 bis 2021 war sie Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Zeitschrift für medizinische Ethik. Sie wurde 1960 in Unna/Westfalen geboren, ist verheiratet und Mutter von fünf erwachsenen Kindern.

Der Kirche bleibt in dieser Entwicklung die wichtige Aufgabe, eben diese Güterabwägung in den Diskurs einzubringen und gegenläufig zum gesellschaftlichen Fokus auch den Wert des ungeborenen Lebens hochzuhalten. Dabei muss die Kirche mit guten philosophischen, ethischen und anthropologischen Argumenten in den Diskurs gehen und ihre Position auf der Höhe der Zeit anschlussfähig begründen. Es gilt, den Schutz des Lebens und der unbedingten Würde jedes Menschen, auch des ungeborenen von Anfang an, als eines ihrer wichtigen Anliegen auf breiter Basis in die Gesellschaft einzuspielen: Niemand kann eine Geltungsbedingung für die unbedingte Würde stellen! Diese Position ist in keiner Weise irrelevant. Es gelingt der Kirche momentan aber kaum noch, sie zu plausibilisieren, sicher auch, weil die Verantwortlichen die eigene Theologie und die humanwissenschaftliche Forschung weitgehend missachten. Es ist und bleibt eine wichtige Aufgabe der Kirche, Lobby zu sein für das ungeborene Leben. Dies kann aber nur erfolgreich sein, wenn es eingebettet ist in das Bewusstsein um die Komplexität der Situation, wie viele Menschen in den Beratungsdiensten sie erleben.

Inwiefern ist diese Entwicklung auch eine Anfrage an die katholische Kirche?

Mit dem Ausstieg aus der Schwangerschaftskonfliktberatung Ende 1999 hat die katholische Kirche für die aktuelle Debatte ihr Potenzial eigentlich verspielt: Dabei wäre man heute von kirchlicher Seite doch dankbar, wenn diese gut eingespielte und tragfähige Beratungslösung bestehen bliebe.

Ein Signal in der Debatte wäre, in dieses Beratungssystem wieder einzusteigen, weil man so anzeigen würde, dass es Entscheidungssituationen gibt, die keine Eindeutigkeit kennen, und weil es eine Stärkung dieses derzeitigen Modus bedeuten würde. Will die Kirche in der aktuellen Entwicklung glaubwürdig sein, so muss in ihrem Argumentieren und Handeln deutlich werden, dass es um den Schutz des Lebens und nicht primär um den Schutz der Lehre geht.

Dies macht letztlich den evangeliumsgemäßen Blick auf jeden Einzelfall nötig sowie das Ernstnehmen des Gewissens der Frau. Dem gerecht zu werden, bedeutet in diesem Zusammenhang auch, die hoch komplexen Entscheidungssituationen ernst zu nehmen, in denen die betroffenen Frauen stecken, und ihre Not zu sehen. Aber es bedeutet auch, ihrer eigenen Botschaft gemäß Respekt vor einmal gefällten, letztlich tragischen Entscheidungen zu haben. Schließlich braucht es auch nach solchen Entscheidungen ein Angebot der Unterstützung und Sorge für die Frauen. 

Was empfehlen Sie Christ:innen: Wie umgehen mit einer solchen politischen-gesellschaftlichen Entwicklung? 

Meine Empfehlung für Christ:innen ist an dieser Stelle, das mühsame Geschäft des differenzierten Argumentierens aufzunehmen. Christ:innen haben etwas Bedeutendes und Unverzichtbares beizutragen zur aktuellen Debatte, nämlich den Schutz der Würde des Ungeborenen von Anfang an. 

Dies anschlussfähig und nachvollziehbar zu tun, ist eine große Herausforderung und unumgängliche Aufgabe. Zugleich gilt es, wachsam zu sein, mit welchen Koalitionspartnern man sich ins Boot setzt. Es gilt, dort die Differenz in der Argumentation zu verdeutlichen, wo das Ergebnis das gleiche ist: Wenn die AfD gegen die Änderung des Abtreibungsrechts stimmt, sieht das zunächst nach einer für Christ:innen anschlussfähigen Position aus. Erst differenzierteres Hinschauen zeigt den Unterschied: Dort der Schutz der Ungeborenen des deutschen Volkes, hier der Schutz aller Ungeborenen.

Wie ist es zu bewerten, dass diese Frage etwa in den USA von kirchenoffizieller Seite zum wahlentscheidenden Kriterium für die Präsidentschaftswahl erhoben wird? Wie gerechtfertigt ist das? 

In den USA scheint in der Tat die Frage nach dem Lebensschutz die einzige zu sein, die im Blick der Kirche auf die Gesellschaft Relevanz hat. Fragen sozialer Gerechtigkeit etwa spielen, ethisch gesehen, keine Rolle. Das folgt dem Muster der Komplexitätsreduzierung und zeugt nicht nur von politischer, sondern auch theologischer Unbedarftheit. Wenn es nicht um theologische Wahrheit, sondern um politische Klugheit geht, wird solch eine Haltung zur Ideologie. Politik meint immer Kompromiss im Wissen darum, dass verschiedene Güter abzuwägen sind. Die Frage des Lebensschutzes am Lebensanfang also zum allein wahlentscheidenden Kriterium zu machen, hat einen populistischen Anstrich! Gerechtfertigt scheint mir das nicht, denn Lebensschutz umfasst mehr Phasen und Facetten des Lebens, die dann auch nicht unbeachtet bleiben dürfen. Ist nicht die Sorge um die Ärmsten der Gesellschaft oder die Sorge um die Kinder der Geflüchteten genauso Lebensschutz?

Ganz grundsätzlich: Warum birgt diese Frage wie kaum eine andere ethische dieses geradezu existenzielle Potenzial für die Kirche?

Die Botschaft des Evangeliums ist eine Botschaft vom Leben. Diese Botschaft ist in der Abtreibungsfrage zutiefst berührt. Sie lässt sich aber nicht unmittelbar in eine politische Handlungsanweisung umsetzen. Kann man in dieser Frage von Leben und Tod politisch notwendige Kompromisse eingehen? Ein Dilemma, aus dem auch die Kirche gegebenenfalls nicht herauskommt, ohne sich die Hände „schmutzig zu machen“. Hier liegt das existenzielle Potenzial für die Kirche, aber zugleich auch der Punkt notwendigen Gottvertrauens.  

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