Pharmazie-Historikerin, Heimkind, Autorin: Interview mit Sylvia Wagner

Arzneimittelversuche an Heimkindern auch in kirchlichen Einrichtungen

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Sylvia Wagner ist Pharmazie-Historikerin und war Heimkind. 2019 promovierte sie über Arzneimittelversuche in Kinderheimen. Derzeit arbeitet sie in einem wissenschaftlichen Team im Auftrag des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales von Nordrhein-Westfalen an einer Studie für das Bundesland. Im autobiografischen Roman „heimgesperrt“ hat sie zudem ihre eigene Geschichte mit ihren wissenschaftlichen Ergebnissen verwoben. Kirche+Leben hat mit ihr gesprochen.

Frau Wagner, wie sind die Arzneimittelversuche in Heimen für Sie zu einem Forschungsthema geworden?

Für die ehemaligen Heimkinder ist es sehr wichtig, dass das Thema der Arzneimittelversuche aufgearbeitet wird. So können sie einordnen, was mit ihnen in den Einrichtungen geschehen ist. Einige Betroffene haben bereits 2009/2010 im Rahmen des Runden Tisches Heimerziehung (RTH) ihre Vermutung geäußert, dass in den Heimen Medikamente an ihnen getestet worden seien. Im Abschlussbericht des RTH hieß es aber, dass es nur einen konkreten Hinweis auf die Prüfung eines Medikamentes gäbe. Die Aufarbeitung zeigt jedoch, dass die Problematik viel umfassender ist. Das bestätigt nicht nur die Vermutung und die Erinnerungen der ehemaligen Heimkinder, sondern die Aufarbeitung gibt ihnen in gewisser Weise auch ihre Würde zurück.

Welche Ergebnisse gibt es bislang?

Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass bis Anfang der 1970er Jahre in Heimen in der Bundesrepublik Deutschland Medikamente an Heimkindern getestet worden sind. In Säuglings- und Kleinkinderheimen waren es vor allem Impfstoffe, etwa gegen Kinderlähmung. An älteren Kindern und Jugendlichen sind beispielsweise Psychopharmaka mit sedierender, also ruhigstellender Wirkung getestet und eingesetzt worden. Aber auch triebhemmende Präparate und andere Substanzen sind erprobt worden. Es ist sehr schwierig, eine belastbare Zahl zum Umfang der Versuche zu geben. Bislang sind etwa 160 Arzneimittelprüfungen bekannt, in die etwa 3.500 Heimkinder involviert waren. Aber das ist sicherlich nur die Spitze eines Eisberges. Auch wenn die Forschung weiter geht, so wird aufgrund der schlechten Quellenlage eine hohe Dunkelziffer bestehen bleiben.

Wie wurden die Versuche organisiert?

In vielen Fällen bestanden Kontakte zwischen Heimärzten und Vertretern der Pharmaunternehmen schon über eine längere Zeit. Die Prüfung von Präparaten war in beiderseitigem Interesse. Die Heimärzte haben die Präparate kostenlos von den Unternehmen erhalten. Zum Teil gab es für die Ärzte auch finanzielle Anreize für die Testungen. Die Pharmaunternehmen kamen durch die Heimärzte auf eine einfache Weise an Versuchspersonen und Versuchsergebnisse. Die Kinder wurden nicht über die an ihnen durchgeführten Versuche informiert. Einwilligungen von ihnen oder ihren Eltern hat es offensichtlich nicht gegeben. Die Kinder waren in diesen Fällen Objekte der Forschung. Sie hatten keine Lobby. Es gab niemanden, der sich für ihre Belange einsetzte.

Waren kirchliche Einrichtungen in die Taten verstrickt?

Etwa 65 Prozent der Heime befanden sich in kirchlicher Trägerschaft. Davon war etwa die Hälfte in katholischer Hand. Auch in diesen Einrichtungen sind Präparate an Kindern getestet worden. Die Ergebnisse der Versuche wurden zum Teil in medizinischen Fachzeitschriften publiziert. So gesehen kann man nicht generell von einer Vertuschung sprechen. Behörden und Ärzteschaft wussten, dass es solche Versuche gab. Auch die Träger der Einrichtungen waren, zumindest teilweise, über die Versuche informiert. Eine wirklich kritische Haltung scheint es nicht gegeben zu haben. Aufarbeitung gibt es nur vereinzelt. So hat bisher das Essener Franz-Sales-Haus eine Untersuchung veröffentlicht.

Spielen die Arzneimittelversuche auch im Gesamtkomplex des sexuellen Missbrauchs eine Rolle?

Es gibt Hinweise, dass Arzneimittel auch im Zusammenhang mit sexueller Gewalt an Kindern in Heimen eingesetzt worden sind. Da stehen die Forschungen aber noch am Anfang. Hinweise auf konkrete Versuche gibt es meines Wissens in diesem Zusammenhang bisher nicht.
 

Roman zum Thema
Sylvia Wagner erzählt in ihrem Roman „heimgesperrt“ die Geschichte einer Frau, die als Heimkind aufwuchs. Mit ihrer Vergangenheit setzt sich diese erst bewusst auseinander, als sie von anderen Heimkindern von Missbrauch, Gewalt und Arzneimittelversuchen hört. Sie begibt sich auf Spurensuche in Einrichtungen, in Geheimarchive und in die Auseinandersetzung mit der Pharmaindustrie:

Sylvia Wagner: „heimgesperrt“, Correctiv – Verlag und Vertrieb für die Gesellschaft UG
ISBN: 978-3-948013-21-9

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