Bernhard Frahling litt lange unter den Folgen seiner Kriegsgefangenschaft

Wie leblos vor dem Massengrab – und doch gerettet

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Am 12. April 1945 gerät der 17-jährige Soldat Bernhard Friedrich Frahling aus Borghorst in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Aufgrund der unmenschlichen Lebensbedingungen entrinnt er dem Tod nur knapp. Die Erinnerungen lassen den heute 94-Jährigen noch immer nicht los.

Anfang Juni 1945, das Korn steht noch hoch in Remagen, typisch für die „Goldene Meile“, wie diese fruchtbare Gegend entlang des Rheins genannt wird. Einen Meter vor dem Massengrab Bad Bogendorf liegt der ausgemergelte Körper des Jungen aus Borghorst. Dort, auf dem extra angelegten Friedhof, werden die Toten aus den Kriegsgefangenlagern der Rheinwiesen Sinzig und Remagen begraben, diejenigen, die nicht namenlos in Bombenlöchern verscharrt oder wegen drohender Seuchengefahr verbrannt werden.

Kein Glied rührt sich mehr beim 17-jährigen Bernhard Frahling. Er wird für tot gehalten. „Wohl aufgrund meiner jungen Jahre hat ein Sanitäter genauer hingeguckt und ein Zucken in meinem rechten Mundwinkel bemerkt“, erinnert sich der heute 94-Jährige. Das war seine Rettung, er gelangte ins Lazarett Kripp.

Traumata machten krank

Bernhard Frahling schiebt seinen Rollator im Seniorenhof Eggerode zu seinem Briefkasten. Auch mit 94 Jahren steht er in Kontakt mit Archiven, dem Kreis Steinfurt und Heimatforschern um seine Vergangenheit zur Sprache zu bringen. | Foto: Marie-Theres Himstedt
Bernhard Frahling schiebt seinen Rollator im Seniorenhof Eggerode zu seinem Briefkasten. Auch mit 94 Jahren steht er in Kontakt mit Archiven, dem Kreis Steinfurt und Heimatforschern, um seine Geschichte zur Sprache zu bringen. | Foto: Marie-Theres Himstedt

Erst in hohem Alter sieht sich Frahling in der Lage, seiner Vergangenheit nachzuspüren, heute lebt er im Seniorenhof Eggerode, fast taub und blind. Seine körperlichen Gebrechen haben seit 1945 zugenommen. Fast jedes Jahr lag der Vater von sieben Kindern mit unterschiedlichsten Leiden im Krankenhaus.

„Mein Leben lang haben mich die Traumata von damals begleitet. Mit 80 Jahren habe ich mir dann die Leber frei gemacht“, sagt er mit lauter, kräftiger Stimme. Ein Gespräch ist nur möglich, weil ein Freund und entfernter Verwandter die Fragen in seinem Zimmer im Seniorenhof Eggerode für Frahling ins Plattdeutsche übersetzt.

Umgang der Alliierten mit Gefangenen

Sein Befreiungsschlag ist nun 15 Jahre her, seine Unterlagen publiziert, an Museen, Gedenkstätten und Schulen im ganzen Land verschickt. Aber die täglichen Nachrichten vom Ukraine-Krieg lassen seine eigenen, schrecklichen Kriegserfahrungen wieder lebendig werden: „Mein Bruder starb damals auf der Krim. Krieg darf es nicht mehr geben“, sagt er, und seine Stimme wird brüchig.

Was der gebürtige Borghorster als junger Soldat im Umfeld der amerikanischen und französischen Gefangenenlager in den Rheinwiesen zwischen Remagen und Andernach erlebt hat, entzieht sich jeglicher Vorstellungskraft und berührt ein Thema, das behutsamer Diskussion bedarf – den Umgang der Alliierten mit ihren deutschen Gefangenen: Etwa 250 000 deutsche Soldaten waren damals in Lagern in der amerikanischen Besatzungszone untergebracht.

„Tatsache ist, dass diese Lager nicht so schnell errichtet werden konnten, wie man sie brauchte. Man konnte keine Gebäude errichten, die Gefangenen mussten sich Erdlöcher graben und sich Schutz vor Nässe und Kälte beschaffen. Sie lebten wie Ratten im Dreck“, heißt es in einer Übersetzung eines amerikanischen Divisionsberichts.

Schreckliche Erlebnisse

1993 traf Bernhard Frahling (rechts) seinen Lebensretter Joseph Peter Czerny und konnte ihm danken. | Foto: privat
1993 traf Bernhard Frahling (rechts) seinen Lebensretter Joseph Peter Czerny und konnte ihm danken. | Foto: privat

Die Wasserversorgung stellte eine große Herausforderung dar, außerdem fehlten medizinische Einrichtungen. Seuchen verbreiteten sich schnell. Bernhard Frahling wurde Opfer der roten und weißen Ruhr, von Paratyphus und Hungertyphus.

Deutlich erinnert er sich an die Situation, als seine Kompanie verlegt wurde. Überwältigt von Durst stürzten sich die Männer während des Zwölf-Kilometer-Weges, bekannt als der „Todesmarsch von Remagen nach Andernach“, auf eine Wasserkuhle.

Doch welch ein Erschrecken: „Der ganze Tümpel lag voller in Verwesung schon zerfledderter Leichen!“, hat Frahling in seiner Dokumentation, die auch im Kreisarchiv Steinfurt vorliegt, niedergeschrieben. Jeder Satz dort ist mit einem Ausrufungszeichen versehen. Bernhard Frahling ist es ein Anliegen, gehört zu werden, vor allem im Interesse der vielen namenlosen Toten, wie er immer wieder betont.

Innere Wut als Selbsterhaltungstrieb

Immer wieder stellt er sich die Frage nach seiner eigenen Schuld und seinem Überleben: „Ich war doch noch ein ganz junger Mensch, der kaum den Krieg bestritten, geschweige denn, ihn begriffen hatte“, sagt er. Im Gefangenenlager hatte er den Tod täglich vor Augen – für den jungen Frahling eine kaum auszuhaltende Situation.

„Das ohnmächtig und untätig miterleben müssen und dabei die eigene Perspektivlosigkeit vor Augen zu haben! Doch diese innere Wut gebar auch in mir eine ungeheure Stärke als Selbsterhaltungstrieb!“

Der Glaube als Stütze

Die furchtbaren Erlebnisse haben seinen festen Glauben nicht ausgelöscht. So erklärt er es sich, dass er jegliche Entbehrungen irgendwie überstand, „nicht zu vergessen durch den Dauereinsatz meines Schutzengels“.

Nach der Entlassung aus dem Lager Andernach am 11. August 1945 kam er zurück auf seinen münsterländischen Heimathof. Trotz der Freude seiner Familie „war kein Lachen mehr in mir.“ Als „Heulsuse“ wurde er bald gebrandmarkt, da er oft in Tränen ausbrach, ohne Erklärungen.

Lange Sprachlosigkeit

Seine Mutter scheuchte ihn beispielsweise vom „Backkasten“ in der Küche fort. Es wusste ja niemand, dass der junge Frahling dort seine Füße in die warme Ofenklappe hineinsteckte, weil er sie nicht mehr spürte. Bei seinem ersten Einsatz an der Ostfront 1944 hatte er starke Erfrierungen erlitten.

Es folgten lange Jahre der Sprachlosigkeit, die Frahling mit beruflichem Erfolgen als Kaufmann im Saathandel und als Hobby-Botaniker füllte. Ab 1980 nahm er alle fünf Jahre an Erinnerungstreffen am Friedensmuseum "Brücke von Remagen" teil.

Den Lebensretter wiedergetroffen

Ein wunderbares Erlebnis: Ein Wiedersehen mit seinem Lebensretter Joseph Peter Czerny aus Wien im Jahr 1993. Doch „zuletzt war nur noch ich übrig“, erzählt er. Zuvor bestärkt von seiner Frau und mit der Unterstützung seines Freundes und Heimatforschers Willi Tebben fing er an, seine Erlebnisse aufzuschreiben.

„Zwei Tage und zwei Nächte habe ich gesessen und den Federhalter nicht aus der Hand gelassen.“ Es ist eine 70-seitige Dokumentation, unter anderem in Großdruck, entstanden, die heute noch über das Geschehen Zeugnis ablegt.

Den Kameraden beigestanden

„Was mich jetzt wieder überrascht und überfällt, ist der Gedanke an meine Kameraden“, sagt Frahling, während er weitere Unterlagen auf seinem kleinen Tisch zusammenschiebt. „Wir lagerten in Zehnergruppen auf freiem Feld. Diese Momente, wo ich 30 Kameraden fürsorglich die letzten Minuten versüßt habe, das hat sich unauslöschlich in mein Gedächtnis eingegraben. Das ist der Moment, wo ich meine, dass der Herrgott mir den Auftrag gegeben hat, meine toten Kameraden zu verabschieden. Sie sind in meinen Armen gestorben.“

Zur Historie
Die Zahl der Toten in den Rheinwiesenlagern ist nicht genau zu beziffern. Experten sprechen nach Angaben der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz von 5.000 bis 10.000 Toten. Grundsätzlich sei festzuhalten, dass – obwohl keine Seuchen ausbrachen – die Sterblichkeit in den Rheinwiesenlagern zwar im Vergleich zu anderen westalliierten Kriegsgefangenenlagern hoch war: „Von einer systematisch geplanten Ermordung deutscher Soldaten – wie von Rechtsextremen behauptet wird – oder einem planmäßig herbeigeführten Massensterben in der Größenordnung von einer Million Toten kann jedoch überhaupt nicht die Rede sein.“ (Quelle: Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz)

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