Pater Christian Brüning über einen Hirten, der Freiheit zumutet

Auslegung der Lesungen vom 4. Sonntag der Osterzeit (Lesejahr A)

In den Texten des heutigen Sonntags, der auch der „Gute-Hirte-Sonntag“ genannt wird, begegnet das Bild des Hirten. Dabei geht es um weit mehr als darum, willenlose Schafe im Zaum zu halten, zeigt Pater Christian Brüning OSB.

Anzeige

In den Texten des heutigen Sonntags, der auch der „Gute-Hirte-Sonntag“ genannt wird, begegnet das Bild des Hirten. Dabei geht es um weit mehr als darum, willenlose Schafe im Zaum zu halten, zeigt Pater Christian Brüning OSB aus der Benediktinerabtei Gerleve in seiner Auslegung der Lesungen.

In der biblischen Lebenswelt wurden Kleinviehherden, also Schafe und Ziegen, aus verschiedenen Herden nachts in ein umzäuntes oder ummauertes Gehege zusammengetrieben, damit ein Torwächter sie hüten konnte. Morgens wurden die Tiere wieder getrennt und hinaus auf die Weide geführt, indem die Hirten sie mit ihrer Stimme oder ihrem Pfiff riefen. Die Tiere kannten ihre Hirten und folgten ihnen.

Auf der Weide angekommen, ließen die Hirten den Tieren freien Lauf. Denn die Tiere konnten nur weitgestreut Nahrung finden. Die Weiden waren nicht einfach saftige Grünfläche, die Tiere weideten in der Gebirgswüste Palästinas. Abends sammelten die Hirten die Schafe und Ziegen wieder, um sie zurückzuführen.

 

Unterm Stab durchgezogen

 

Die Lesungen vom 4. Sonntag der Osterzeit (Lesejahr A) zum Hören finden Sie hier.

Um die Tiere zu hüten, bedienten sich die Hirten ihres Stabes. Er diente einerseits dazu, die Tiere zu schützen. Denn er konnte als Schlaginstrument gebraucht werden, um Wildtiere oder Räuber abzuwehren oder um auf Buschwerk zu schlagen und damit beispielsweise Schlangen zu vertreiben. Andererseits diente er dazu, die Herde zu dirigieren. Dazu hatte er am oberen Ende eine Krümme, um die Tiere an den Hörnern oder Beinen zu ziehen.

Manche Stäbe hatten neben der Krümme eine kleine Schaufel, mit der die Hirten Steine oder Erdklumpen nach den Tieren werfen konnten, um sie wieder in die Herde zurückzutreiben. Als dritte Funktion bedienten sich die Hirten des Stabes, um die Tiere „unter dem Stab durchziehen“ zu lassen. Das bremste die Tiere, wenn sie aus dem Pferch hinaus- beziehungsweise wieder hereingelassen wurden. Gleichzeitig wurden sie dabei gezählt und auf Krankheiten oder Wunden untersucht.

 

Der Hirte kümmert sich um jedes Tier

 

Gerade vor diesem Hintergrund des „unter dem Stab durchziehen Lassens“ wird das Wort „Ich bin die Tür“ plausibel. Es drückt wie kaum ein anderes die Fürsorglichkeit des Hirten aus, der sich sowohl um die ganze Herde, wie auch um jedes einzelne Herdentier kümmert. Im Detail beinhaltet das Bild des Hirten also das Führen der Tiere, ihre Verteidigung, sowie ihr Zählen und sorgfältiges Untersuchen. Ein weiteres, oft vergessenes Element ist, dass der Hirte die Tiere tagsüber in die Freiheit des Weidens entlässt. Nur wenn Not oder Gefahr entstehen, schreitet er ein. Ansonsten traut und mutet er den Tieren die Freiheit zu.

In den Texten des heutigen Sonntags, der auch der „Gute-Hirte-Sonntag“ genannt wird, begegnet das Bild des Hirten neben dem Evangelium ausdrücklich in der zweiten Lesung. Dort heißt es im letzten Vers: „Ihr hattet euch verirrt wie Schafe, jetzt aber habt ihr euch hingewandt zum Hirten und Hüter eurer Seelen.“ Tages- und Schlussgebet sind ebenfalls am Bild des Hirten orientiert.

 

Vom Kreuz zum Gottesknecht

 

Pater Christian Brüning OSB
Pater Christian Brüning OSB ist Mönch der Benediktinerabtei Gerleve. | Foto: Abtei Gerleve

Möchte man beide Lesungen und das Evangelium miteinander in Beziehung setzen, bietet sich ein Detailaspekt an. In der ersten Lesung aus dem 2. Kapitel der Apostelgeschichte begegnet der Vers: „Gott hat ihn zum Herrn und Christus gemacht, diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt.“ Diese Worte schlagen eine Brücke zwischen dem Kreuzestod Christi und der alt­testamentlichen Vorstellung des Gottesknechtes. An diese knüpft explizit das Zitat aus der zweiten Lesung an: „Er hat unsere Sünden mit seinem eigenen Leib auf das Holz des Kreuzes getragen, damit wir tot sind für die Sünden und leben für die Gerechtigkeit. Durch seine Wunden seid ihr geheilt.“

Von diesem Zitat lässt sich wiederum ein Bogen spannen zum Schluss des Evangeliums: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.“ Das Bild des Hirten, der sich unter Einsatz des eigenen Lebens um seine Herde kümmert, wird hier mit der Vorstellung des Gottesknechtes verwoben.

 

Wie der Vater, so der Sohn

 

Das Tagesgebet setzt diese Verschmelzung der beiden Gedankenkreise voraus, wenn es heißt: „Allmächtiger, ewiger Gott, dein Sohn ist der Kirche siegreich vorausgegangen als der Gute Hirt. Geleite auch die Herde, für die er sein Leben dahingab, aus aller Not zur ewigen Freude.“ Ebenso das Schlussgebet: „Gott, du Hirt deines Volkes, sieh voll Huld auf deine Herde, die durch das kostbare Blut deines Sohnes erkauft ist; bleibe bei ihr und führe sie auf die Weide des ewigen Lebens.“

Im Übrigen geschieht dabei eine theo­­logische Ausweitung. Denn einerseits ist der Sohn Gottes als der Gute Hirt deklariert, andererseits ist Gott, der Vater, selbst der Hirt, der sich um seine Herde kümmert. Das Bild des Hirten fasst das in Jesus Christus geschehene Erlösungswerk zusammen und weitet es auf das kommende Heilswerk des Vaters aus.

Sämtliche Texte der Lesungen vom 4. Sonntag der Osterzeit (Lesejahr A) finden Sie hier.

Anzeige