Autor des Sachbuchs „Ein Hof und elf Geschwister“

Bestseller-Autor Ewald Frie: Glaube der Eltern hat mich stark geprägt

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Bestseller-Autor Ewald Frie hat das 2023 meistverkaufte Sachbuch „Ein Hof und elf Geschwister“ geschrieben. Er spricht im Interview darüber, wie seine frommen Eltern ihn geprägt haben, wofür er der Kirche bis heute dankbar ist und was man aus seinem Buch über sie lernen kann.

Herr Frie, Ihr Buch ist ein Bestseller. Hat Sie das überrascht?

Ja, sehr. Ich hatte zwar gedacht, dass in den Erinnerungen meiner Geschwister, die bei Familientreffen immer wieder mal zum Vorschein kamen, etwas steckt, das auch andere Menschen interessieren könnte. Aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass so viele Leserinnen und Leser darin etwas von sich und für sich finden würden. Zudem war mir nicht klar, dass der Wandel auf dem Land, den ich beschreibe, bisher so wenig thematisiert ist, außer in nostalgischen Darstellungen. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben als Sozialform ist wenig gesehen worden.

Wie erklären Sie sich, dass das Interesse an einer Kindheit auf einem Bauernhof noch so groß ist?

Rund 25 Prozent der Menschen haben 1950 noch ihr Geld in der Landwirtschaft verdient. Da sind die Landhandwerker und die Einzelhändler in den Dörfern noch gar nicht mitgezählt. Heute sind es nur noch wenige Prozent. Das heißt: Das Herausgehen aus der Landwirtschaft betrifft einen großen Teil der Menschen, die heute in Städten, Dörfern oder Kleinstädten leben. Entweder sie selbst oder ihre Eltern haben diese Erfahrung gemacht. Durch das Lesen der Episoden müssen sie ihre Erfahrung jetzt nicht mehr nur als singulären Fall betrachten, sondern können sie dank der angebotenen Begriffe und Deutungsmuster quasi „rahmen“. Und das ist offenbar attraktiv.

Sie beschreiben ausführlich, wie das Zusammenleben mit vielen Geschwistern Kinder fordert und fördert. Was können Kinder dabei lernen?

Jeder muss seine Rolle finden und sie ausgestalten. Immer auch gegen Widerstand oder gegen Einflüsse, die von den Geschwistern kommen. Und man muss aufpassen, dass man nicht zu kurz kommt. Auch das gehört zu den sozialen Kompetenzen, die man lernt. Ich glaube, dass das Aufwachsen in so einer großen Gruppe Sozialkompetenzen hervorbringt, die man an unterschiedlichsten Orten gebrauchen kann.

Aber das Leben mit vielen Geschwister auf dem Hof war und ist nicht nur heile Welt?


Das älteste Familienfoto des Familie Frie aus dem Jahr 1947 mit den beiden ältesten Geschwister. | Foto: privat Ewald Frie

Nein. Und ist es nicht so, dass wir Geschwister unseren Kindern das Gleiche wünschen, das wir erlebt haben. Niemand von meinen Geschwistern wollte selbst auch zehn oder elf Kinder haben. Uns ist bewusst, dass das Leben auf dem Hof auch Schwierigkeiten und Nachteile hatte, die wir nicht gerne weitergeben wollen. Aber es hat sicherlich auch eine Erfahrungsebene, die weiterhilft, auch heute noch.

Glaube und Rituale kommen in mehreren Ihrer Episoden vor, etwa das Weihnachtsfest. Haben sie das als Kind genossen oder war es eher lästiges Ritual?

Ich glaube, es war beides. Ich kann zum Beispiel nicht behaupten, die Litaneien geschätzt zu haben, die wir Heiligabend gelesen haben. Die waren immer sehr lang. Aber ich mochte es, mit allen gemeinsam um das Herdfeuer zu sitzen oder später um den großen Tisch in der besten Stube. Wir wussten, wir machen das anders als die Familien in den Kleinstädten oder Dörfern. Es war etwas Besonderes. Ich glaube, auch deshalb fanden es die meisten von uns gut.

Spielen diese Rituale in Ihrer Familie heute noch eine Rolle?

Das habe ich meine Geschwister zwar nicht gefragt. Ich vermute aber, dass es manches davon nicht mehr gibt - etwa die in meiner Kindheit gepflegte Haussegnung an Heiligabend. Dass aber bei vielen der Heiligabend zu Hause noch eine religiöse Komponente hat, die unterschiedlich ausgestaltet ist. Und wenn wir Geschwister mit unseren Familien uns am Sonntag nach Weihnachten treffen, werden immer noch viele Weihnachtslieder gesungen. Das dauert lange, mindestens eine halbe Stunde.

Wofür sind Sie der Kirche im Nachhinein dankbar?


Das Foto zeigt die Familie 1960, damals bereits mit sieben Kindern. | Foto: privat Ewald Frie

Ich selbst und ein paar der Geschwister um mich herum sind der katholischen Kirche vor Ort dankbar für die Erfahrung von Gemeinschaft in der Messdienergruppe, in Zeltlagern oder bei Jugendherbergsfahrten. Das war sehr beeindruckend. Meine ältesten Geschwister erinnern sich sehr positiv an ihre Landjugendzeit.

Wie wirken die Beispiele Ihrer frommen Eltern nach?

Ihre Art zu glauben hat mich - und ich glaube, auch meine Geschwister - sehr stark geprägt. Und das geht auch nie mehr weg. Die Frage, ob die katholische Kirche eine Institution ist, der anzugehören sinnvoll und richtig ist, werden aber verschiedene Geschwister unterschiedlich beantworten. Geprägt zu sein bedeutet ja nicht „gestanzt“ zu sein, sondern die Chance zu haben, mit einer Tradition umzugehen. Ich glaube, alle Geschwister bringen religiösen Fragen Ernsthaftigkeit und Respekt entgegen.

Sie schildern eine Kirche in ihrem Dorf, die Vielfalt verkörpert und ständig im Wandel begriffen ist.

Ja, es ist erstaunlich, in wie vielen verschiedenen Rollen die Kirche dort auftritt. Von den 1950er Jahren mit lateinischer Messe und Gebetsroutinen der Messdiener, über die Loburg als Bildungseinrichtung, die mein zweitältester Bruder besucht und frustriert verlassen hat, über die Landjugend als eine Art Jugendbildungsanstalt für bäuerliche Kinder bis hin zu Messdienergruppen der 1970er Jahre und den jugendbewegten Katholikentagen der 1970er und 1980er Jahre. Das sind weit auseinanderliegende Aspekte des Katholischen, die in der Geschichte unserer Familie in relativ kurzer Zeit aufeinanderfolgen oder sich mischen und einen ständigen Wandel der Kirche zeigen.

Was kann man aus Ihren Familiengeschichten noch über die Geschichte der Kirche lernen?

Buchtipp

Das Buch können Sie hier bequem über unseren Partner Dialogversand bestellen.

Ewald Frie: „Ein Hof und elf Geschwister - Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben“
ISBN: 978-3-406-79717-0, Verlag C. H. Beck, 191 Seiten, 23 Euro

Zum Beispiel, dass Religionen, die einen persönlichen Gott kennen, immer ein anarchisches Potential haben. Weil jeder Einzelne Dinge mit seinem Gott verabreden kann, etwa im persönlichen Gebet. Das gibt diesen Religionen eine Dynamik, die nicht nur von oben kommt. Auch das kann man in dem Buch lesen: Das Bistum macht Angebote, und meine Geschwister, meine Mutter und irgendwie auch mein Vater machen damit Dinge, die sich die Verantwortlichen in Münster nicht hätten träumen lassen.

Wann und woran war die schwindende Bedeutung der Kirche für Sie zuerst erkennbar?

Der Bedeutungsverlust der Kirche war schon in meiner Schulzeit in den 1970er Jahren Thema im Religionsunterricht, auch in Gesprächen mit Freunden. Kirche betraf schon damals viele meiner Mitschülerinnen und Mitschüler gar nicht mehr. Ich erinnere mich auch an Predigten des Dechanten, in denen er die ,mangelnde Treue des Gottesvolks‘ beklagte.

Halten Sie die den derzeitigen Bedeutungsverlust für unumkehrbar?

Nein, muss ich als Historiker dazu sagen. Auch Ende des 18. Jahrhunderts wurde pessimistisch über die Zukunft der katholischen Kirche geurteilt und gesagt: Die Verfallssymptome sind deutlich sichtbar, sie hat der Aufklärung nichts mehr entgegenzusetzen. Auch der aufgeklärte Katholizismus war in Schwierigkeiten. Und dann sind Formen gefunden worden, die zu einem neuen Aufschwung geführt haben: Frauenkongregationen, Ultramontanismus, Herz-Jesu-Frömmigkeit, lauter Dinge, die uns jetzt befremdlich vorkommen. Es ist also nicht unmöglich, dass der Katholizismus ein neues Selbstverhältnis findet, das für einige Generationen von Nachwachsenden wieder attraktiv wird, bevor es erneut einer Neuausrichtung bedarf. Ob das passieren wird, kann ich nicht sagen. Ausschließen würde ich es nicht.

Planen Sie weitere Buchprojekte dieser Art?

Der große Erfolg des Buches macht einen natürlich nachdenklich. Aber erst einmal war das eine einmalige Sache. Das Buch ist so dünn, weil ich gedacht habe: Das ist es, was ich sagen will, und damit ist es auch gut!

Ewald Frie wurde 1962 als neuntes von elf Kindern einer katholischen Bauernfamilie in geboren. Er ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Tübingen und ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Im Februar ist sein Buch „Ein Hof und elf Geschwister“ erschienen. Dafür wurde der 60-Jährige im Juni mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet. Seither rangiert sein Buch auf Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste für Sachbücher. Es ist inzwischen in der elften Auflage erschienen. Genauere Zahlen zur Zahl der verkauften Exemplare waren vom Verlag nicht zu erfahren.

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