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Amara-Sofie hat ihren Blick fest auf die Mama geheftet. Sie ist vier Monate alt. Ihre Mutter war schon in Haft, als sie geboren wurde. Melanie P. und ihre Tochter bewohnen zurzeit ein zwölf Quadratmeter kleines Zimmer im Mutter-Kind-Haus der Justizvollzugsanstalt Vechta. Schrank, Bett, Kinderbett, Waschbecken. Auf der Wickelkommode stehen ordentlich aufgereiht Cremedöschen. Über dem Bett baumelt eine Mondspieluhr. Keine Kerze, kein Weihnachtsschmuck: „Ich will mich hier nicht allzu häuslich einrichten“, sagt die 35-Jährige.
So wie Melanie P. sitzen rund 100 Mütter in Deutschland mit ihren Kindern in Haft – in geschlossenen und offenen Abteilungen. Längst nicht in jedem Bundesland ist eine gemeinsame Unterbringung von Müttern mit ihren Kindern möglich, kritisiert die Leiterin des Mutter-Kind-Hauses, Marianne Heumüller. In ganz Deutschland gibt es nur zehn solcher Einrichtungen. Die Zahl der Plätze sei zu niedrig. „Es kommt vor, dass Kinder direkt nach der Geburt von ihren inhaftierten Müttern getrennt werden, weil nirgendwo ein Platz in einer Mutter-Kind-Einrichtung frei ist“, sagt Heumüller.
Heumüller: Das Kindeswohl steht bei uns im Mittelpunkt
Vechta bietet 13 Plätze im offenen Vollzug, wo auch Melanie und Amara-Sofie leben, und fünf im geschlossenen. Die meisten Mütter dort haben mehrere Kinder. Bis zum Eintritt in die Grundschule dürfen sie die Jungen und Mädchen bei sich haben, im geschlossenen Vollzug bis zum dritten Lebensjahr. Weitere Kinder müssen beim Vater, bei Großeltern, in Heimen oder bei Pflegefamilien wohnen.
Kinder sollten eine feste Bindung zur Mutter aufbauen können, sagt Heumüller: „Das Kindeswohl steht bei uns im Mittelpunkt.“ Deshalb arbeiten neben den Vollzugsbeamten auch Erzieherinnen, Psychologen und Pädagogen im Haus.
Plätzchenbacken und Weihnachtsfeier im Gefängnis
Melanie P. hält ihre Jüngste fest im Arm. Sie hat noch sechs weitere Kinder. Sie leben mit dem Vater in der Nähe von Magdeburg – und fehlen ihr, vor allem jetzt, kurz vor Weihnachten. „Dass die Familie auseinandergerissen ist, ist meine größte Strafe“, sagt sie und die Augen hinter ihrer schwarz gerahmten Brille suchen einen festen Punkt. „Wir haben im Advent immer Plätzchen gebacken.“
Im Foyer des einstöckigen Gebäudes hängt ein Adventskranz von der Decke. Gegenüber schaukelt ganz sacht ein Mobile mit kleinen Nikoläusen dran. Plätzchen haben sie hier schon gebacken. Eine Weihnachtsfeier ist geplant.
Melanie P.: Im Knast findest du keine Freunde
Aber friedliche Vorweihnachtsstimmung will nicht so recht aufkommen, sagt Heumüller. Die Häftlinge streiten oft untereinander, neiden sich Vergünstigungen. „Im Knast findest du keine Freunde“, sagt Melanie P. „Jeder will das Beste für sich selbst rausholen.“
Melanie P. weiß es trotzdem zu schätzen, dass sie hier sein darf. Die gelernte Kosmetikerin sitzt wegen Sozialbetrugs. Jetzt bemüht sie sich, alle Regeln einzuhalten, damit ihre 26-monatige Haftzeit verkürzt wird. Die Schwiegereltern helfen zu Hause aus, während ihr Mann arbeitet. „Meine Familie steht hinter mir“, sagt sie. „Wenn das nicht so wäre, würde ich das hier nicht durchstehen.“
Heumüller: Knast ist Chance für Mutter-Kind-Bindung
Heumüller erklärt, dass es wie bei Melanie P. bei Müttern im offenen Vollzug fast immer um Eigentumsdelikte gehe. Der Umgang mit Geld ist deshalb ein ständiges Thema. Mindestens genauso wichtig ist jedoch für die meisten die Reflexion über ihre Mutterrolle. „Viele Mütter haben hier erstmals die Chance, den intensiven Umgang mit ihrem Kind zu lernen, ihm Zuwendung zu geben und Grenzen zu setzen“, sagt die Leiterin.
An den klar geregelten Tagesablauf mit Wecken um sieben Uhr, Arbeiten am Vormittag, Mittagsruhe und Zubettbringen der Kinder um 19 Uhr gewöhnen sich manche nur schwer. Für ihre Kinder müssen sie zudem die Mahlzeiten selbst zubereiten. Das Handy ist im Haus tabu, ebenso der Fernseher auf dem Zimmer. Nachts ist das Haus abgeschlossen.
Nicht alle Mütter kommen Weihnachten nach Hause
Dennoch haben alle Frauen ihre Haft freiwillig angetreten. Das ist Bedingung. Gitterstäbe sind hier nicht nötig. Die Eingangstür ist tagsüber offen. Melanie P. nutzt die zweieinhalb Stunden Ausgang am Nachmittag meistens für Einkäufe oder Spaziergänge mit ihrer Tochter. Spontan kann sie das aber nicht entscheiden. „Ich muss mich an den Plan halten, der immer sonntags aufgestellt wird“, sagt sie.
Sie zählt die Tage bis Weihnachten. Am 23. fährt sie mit Amara-Sofie für zwei Wochen nach Hause. Nicht allen gelingt es, sich dafür vom Jahresurlaub einige Tage aufzusparen. Zwei Mütter müssen wahrscheinlich dieses Jahr die Feiertage mit ihren Kindern im Mutter-Kind-Haus verbringen.