Eine Kosovarin und ihr „Engel“

Einen Tag vor der Firmung abgeschoben: Was Simona heute macht

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Simona Jashari wurde kurz vor ihrer Firmung aus Bocholt in den Kosovo abgeschoben. Mittlerweile lebt sie wieder in Deutschland. Eine Engagierte aus der Kirche hatte daran einen entscheidenden Anteil.

Es war morgens früh, „sehr früh“, erinnert sich Simona Jashari, zwischen fünf oder sechs Uhr morgens: Die letzten Tage ihres Schulpraktikums in der Altenpflege waren angebrochen. Noch etwas müde sei sie gewesen, trotzdem war die Stimmung gut: Sie freute sich auf diese letzten Tage, beschreibt Simona. Ihre Eltern und die kleineren Geschwister schliefen noch. Ein Pausenbrot und etwas zu trinken: Das wollte sie sich noch aus der Küche holen. Doch so weit kam es nicht. Ein blaues Licht spiegelte sich in der Schranktür.

Schweißperlen machten sich bei Simona breit, noch dazu ein Zittern. Sie kannte dieses Licht. Ein Blick aus dem Fenster gab ihr Recht: Es war die Polizei. „Ein großer Bus und ganz viele Mannschaftswagen“, erinnert sich die 23-Jährige heute detailreich an diesen einen Tag zurück. Ihr Vater wollte ihr das erst nicht glauben. Zu Simona sagte er: „Vielleicht werden ja nicht wir abgeholt, sondern andere.“

Erinnerungen an Abschiebung der Schwester

Daran glaubte sie aber nicht. Sie wusste sofort, was gleich geschieht. Bewaffnete, stämmige Polizisten werden erst laut an der Tür klopfen und dann in Scharen in der Wohnung stehen. Wie bei der Abschiebung ihrer gerade volljährigen Schwester einige Jahre zuvor. Simona wollte nicht, dass ihre Mutter wie damals einen Zusammenbruch erlitt, die kleinen Geschwister in Tränen ausbrechen und schrien. Also weckte sie sie langsam und packte die ersten Sachen.

„Keine 20 Minuten später stand tatsächlich die Polizei vor der Tür“, erinnert sich Simona. Die Details dieser Augenblicke kommen immer wieder in ihr hoch: So zum Beispiel, dass ein anwesender Arzt kein Zuckermessgerät für die Mutter dabeihatte. „Sowas muss ein Arzt dabeihaben – meine Mutter brauchte dringend Hilfe. Dann habe ich ihr halt selbst geholfen.“

Abschiebung einen Tag vor Firmung

Simona wusste: Diesmal hat die Familie keine Chance, in Deutschland zu bleiben. Eigentlich sollte die gesamte Familie schon mit der großen Schwester abgeschoben werden. Doch damals fehlte der Bruder – er war auf Klassenfahrt. Die Familie konnte nicht abgeschoben werden, weil sie nicht vollzählig war. An diesem Tag, zwei Jahre später, waren aber alle anwesend.

Eigentlich hätte Simona am nächsten Tag gefirmt werden sollen. Die Firmvorbereitung war abgeschlossen, doch diesen einen Tag sollte sie nicht mehr in Deutschland leben. „Es war ja alles vorbereitet. Das Essen war bestellt, Freunde waren eingeladen.“

„Engel“ Maria konnte nicht helfen

Die Freunde konnte sie so schnell nicht wieder sehen. Im Reisebus, eskortiert durch die Polizei, gab es nur noch ein Ziel: Das Flugzeug nach Prishtina, der Hauptstadt des Kosovos. In Deutschland hatte die Familie keine Bleibeperspektive, nur eine zeitliche Duldung. Der Kosovo war und ist als sicheres Herkunftsland eingestuft. Keine Chance auf Asyl. Da konnte auch nicht Maria Teriete helfen. Ihr „Engel“, wie Simona sie nennt. Die Frau aus der Pfarrei Liebfrauen in Bocholt hatte ihr immer zur Seite gestanden. „Ohne sie hätte ich das alles nicht geschafft“, sagt Simona.

Denn sowohl die Zeit bis zur Abschiebung als auch die Jahre danach haben Simona immer wieder an Abgründe geführt – bis heute. An einem kalten, bewölkten Wintertag hat die Kosovarin gerade ihre Schicht bei einem ambulanten Pflegedienst in Rhede beendet. Sie sitzt in einem Aufenthaltsraum voller Schränke mit medizinischen Beschriftungen und hat eine Menge zu erzählen.

Ein kleines Haus für eine große Familie

Immerhin: Sie hat es zurück nach Deutschland geschafft. Sie lächelt immer wieder, wenn sie von diesem Weg berichtet. Trotz der Abgründe. Trotz der vielen, teils traumatisierenden Erlebnisse. Trotz der Ausweglosigkeit, die sie immer wieder spürte. „Ich habe meine Geschichte schon so oft erzählt, ich habe so viele Tränen geweint – ich bin einfach abgehärtet“, sagt Simona.

Gründe für Tränen gab es nach ihrer Abschiebung 2017 noch viele. Provisorisch wurde die neunköpfige Familie bei ihrer Tante und deren Großfamilie untergebracht. Eine neue Unterkunft wurde gesucht. Und wieder war es ihr „Engel“ Maria, der half. Aus der Ferne: Sie sammelte Geld in der Pfarrgemeinde in Bocholt. „20 Euro pro Spender.“ Ihr Aufruf machte große Runde: Mehrere tausend Euro kamen zusammen. Ein Vermögen im Kosovo. Die Familie Jashari konnte sich eine kleine Unterkunft bauen.

Der harte Job als Erntehelferin

Für den Lebensunterhalt reichte es aber längst nicht. Die Eltern waren durch Krankheiten arbeitsunfähig, die Geschwister noch zu jung für Arbeit und Geld vom Staat gab es nicht. Zur Schule selbst konnte sie nicht mehr gehen. So empfahl ihr eine Nachbarin einen Job als Erntehelferin.

Paprika, Äpfel, Mais: „In der Sommerzeit habe ich in der puren Sonne bei 38 Grad zwölf Stunden pro Tag gearbeitet“, sagt Simona. „Bis meine Schultern total verbrannt waren. Die Haut pellte sich.“ Von dem Gehalt konnte sie der Familie pro Tag ein Mittagessen kaufen. „Der Rest reichte für etwas Milch und Saft.“ Mehr war nicht drin. Ganz nebenbei stand auch noch die Arbeit im Haushalt an.

„Keinen Bock“ auf Schule?

Eine bekannte Situation für Simona. „Ich hatte mich schon vor der Abschiebung um die gesamte Familie gekümmert.“ Beide Eltern waren schwer krank. Für die Schule hatte die Tochter da keine Zeit. Die Lehrerin ging damals davon aus, dass Simona „keinen Bock“ auf Unterricht hatte. Erst beim Elternsprechtag stellte sich heraus, dass hinter ihrer häufigen Abwesenheit ganz andere Gründe steckten: den Alltag der Familie zu meistern.

Nicht weniger belastend war die Zeit nach der Rückkehr in den Kosovo. Und ohne Perspektive. Bis ihr „Engel“ Maria eine Idee hatte. „Simona, es könnte sein, dass ich eine Lösung gefunden habe: ein Bundesfreiwilligendienst in Deutschland. Vielleicht ist das eine Chance.“ Diese Nachricht ploppte plötzlich auf ihrem Handy auf.

Spielt der Vater mit?

So einfach war es dann aber doch nicht. Es wäre auch zu leicht gewesen, in einem Leben mit so vielen Hürden. Im deutschen Konsulat musste ein Visum beantragt werden – die Bearbeitung dauerte lange. Und so packte Simona weiter als Erntehelferin an. Sogar an ihrem 18. Geburtstag – Apfelernte statt Party. Doch dieser Tag wurde dann doch ein ganz besonderer. Ein Anruf aus dem deutschen Konsulat: Das Arbeitsvisum war da. „Ich habe über das gesamte Feld gebrüllt. Ich war so dankbar. Das war ein sehr großes Geburtstagsgeschenk.“

Sorgen schwangen trotzdem mit. „Was sollte ich mit meiner Familie machen? Vielleicht war es aber auch meine einzige Chance. Macht mein Vater das mit? Er ist Muslim und bei solchen Sachen immer etwas strenger.“ Er freute sich aber mit ihr. Und die Brüder waren mittlerweile alt genug, um selbst im Haushalt anzupacken. „Ich durfte gehen.“

„Stimmungskanone“ Simona

Über die Freiwilligen Sozialen Dienste im Bistum Münster (FSD) erhielt Simona einen Freiwilligendienst im Altenpflegezentrum Diepenbrockstift in Bocholt. Die Bewohner und Kollegen dort nannten sie bald „Stimmungskanone“. „Da kommt ein Sonnenschein“, war ein häufiger Satz, wenn sie die Zimmertür öffnete. Und dann kam das erste Gehalt. Für sie unglaublich – so viel hatte sie noch nie in der Hand gehalten. Was kaufen? Ein Kleid. 20 Euro für viel Stolz.

Heute lebt Simona noch immer bei ihrem „Engel“ Maria. Sie absolviert weiter eine Ausbildung bei einem ambulanten Pflegedienst in Rhede. „Mein Traumjob“, wie die 23-Jährige sagt. Sie ist längst im Münsterland angekommen. Das merkt man, wenn sie „Das“ oder „Was“ auf Westfälisch sagt: „Dat“ oder „Wat“.

Simona unterstützt Familie weiter

Zweimal im Jahr fährt Simona zurück zu ihrer Familie in den Kosovo. Mit ihrem Ausbildungsgehalt unterstützt sie zudem ihre Familie in der Heimat. Und bald möchte sie versuchen, den deutschen Pass zu beantragen. Simona möchte im Münsterland bleiben und in ihrem „Traumberuf“ arbeiten – in der Pflege. Sie glaubt fest daran: „Nach jedem Regen kommt die Sonne.“ Wenn das jemand erlebt hat, dann sie.

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