Matthias Vollmer arbeitet Erlebnisse von 1967 erste heute auf

Jahrzehnte verdrängt: ARD-Doku zeigt Qualen eines Verschickungskindes

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Matthias Vollmer hat Jahrzehnte gebraucht, um sich seinen einschneidenden Erlebnissen als Verschickungskind zu stellen. Geholfen haben dem Leiter des Kreisbildungswerks Steinfurt im Bistum Münster dabei auch die Recherchen seiner Tochter für eine ARD-Dokumentation.

Es gibt diese zwei Seiten in dem alten Foto-Album von Matthias Vollmer. Er hat sie immer überblättert, nie wirklich wahrgenommen, sagt er. „Die Fotos dort existierten für mich irgendwie nicht.“ Jene sechs Wochen auf Sylt im Jahr 1967, von denen die Bilder in schwarz-weiß erzählen, waren damit aus seinem Bewusstsein verdrängt. Eigentlich durchaus idyllische Motive: Strand, Meer und der kleine Matthias auf der Wippe.

Was war damals passiert, dass der heute 65-Jährige jene Tage auf der Insel über Jahrzehnte in sein Unterbewusstsein schob, jede Erinnerung vermied, das Erlebte in eine innere Blackbox packte, die er nicht zu öffnen wagte? Denn der Anlass der Reise war „richtig klasse“, sagt Vollmer. Mit seiner Schwester Barbara fuhr er als „Verschickungskind“ in Kur. „Mit riesiger Vorfreude, im Sonderzug mit vielen anderen Kindern, wir waren alle total aufgeregt – die Einzige, die beim Abschied weinte, war meine Mutter.“

Wie Jim Knopf über den Hindenburgdamm

Er war neun Jahre, seine Schwester sieben. „Der Arzt hatte gesagt, wir bräuchten etwas auf den Rippen und die Seeluft würde uns guttun.“ Da der Vater Eisenbahner war, ging es mit dem Bundesbahnsozialwerk Richtung Nordsee. „Mit der Eisenbahn über den Hindenburgdamm – das hatte was von Jim Knopf“, erinnert sich Vollmer an das Abenteuergefühl, mit dem sie anreisten. Doch bereits nach dem Ausstieg in Westerland bekam dieses Hochgefühl erste Tiefschläge. „An einem langen Tau mussten wir in Reih und Glied viele Kilometer zu unserem Quartier laufen.“ Es sollte ein Vorgeschmack von jener Zucht und jener Ordnung sein, mit denen die Krankenschwestern auf sie warteten.

Vollmer traf die Trennung von seiner Schwester besonders hart. „Ich war daheim der Älteste unter den Geschwistern und habe immer viel Verantwortung übernommen.“ Mit diesem Gefühl war er auch nach Sylt gereist. Er war als großer Bruder für die „kleine Babse“ zuständig, wollte dem schmächtigen Mädchen in dem riesigen Erholungsheim zur Seite stehen. „Beim Betreten des Gebäudes wurden aber Jungen und Mädchen getrennt – ich bin in der gesamten Zeit nicht mehr in ihre Nähe gekommen.“

Als Verschickungskind geschlagen und erniedrigt

Selbst im Essensaal sah er sie nur aus der Entfernung. So sah er auch, wie sie sich vor jeder Mahlzeit die „Puddingsuppe“ reinquälte, die sie als besonders untergewichtiges Kind essen musste. Denn Gewichtszunahme gehörte zum Kurerfolg. „Sie weinte und wehrte sich, aber ich konnte ihr nicht helfen.“ Als er sich doch einmal dazu durchrang zu protestieren, bekam er von einer Krankenschwester einen Schlag mit dem Kochlöffel auf die Finger. So war die Atmosphäre beim Essen. „Lieblos, kaltherzig, wie in einem Straflager.“ Es musste aufgegessen werden, wer erbrach, musste weiteressen.

Die Erholungszeit wurde zur Horror-Zeit. In seiner Erinnerung blieben keine schönen Momente zurück. Dafür viele traurige und erniedrigende. „Vier Stunden Bewegung waren am Tag vorgesehen – egal bei welchem Wetter.“ Und so ging es mit der Hand am langen Tau bei jeder Windstärke am Strand entlang. „Der Sand peitschte auf die Haut, die Augen tränten.“

Grausame Nächte ohne Solidarität

Die Nächte aber waren das Schlimmste. Auf seinem Zimmer schliefen vier Jungen in seinem Alter und vier ältere Jugendliche, die das Kommando übernommen hatten. Und die begannen, sich selbst zu befriedigen, wenn die Tür zur Nachtruhe geschlossen wurde. „Wir Jüngeren haben uns immer in unsere Decken gewickelt, wie in eine Schutzhülle, um möglichst nichts davon mitzubekommen.“ Die Möglichkeit, sich jemandem anzuvertrauen, gab es nicht. Auch nicht jener einen Schwester, die nett war, auch mal lächelte und ein gutes Wort hatte. Von ihr wurde Vollmer besonders enttäuscht. „Sie kam irgendwann und legte sich zu den großen Jungs unter die Decke.“

Es gab keine Solidarität, keine Freundschaft, kein Vertrauen. Das spürte er spätestens, als einem Zimmerkameraden die Süßigkeiten geklaut wurden, die ihm die Eltern zum Geburtstag geschenkt hatten. Die leere Kiste hatten die Diebe in das Regal von Vollmer gestellt. „Keiner glaubte mir, ich musste zur Strafe nachts im Schlafanzug auf der harten Holzbank im Flur sitzen.“ So wie jene Kurkinder, die sich eingenässt hatten. Sie froren noch mehr, da sie ihre nasse Kleidung nicht wechseln durften.

Ereignis verschwand in Vollmers Unterbewusstsein

Matthias Vollmer.
Den Blick zurück in seine Zeit als Verschickungskind hat Matthias Vollmer über Jahrzehnte vermieden. | Foto: Michael Bönte

Mit vielen solcher Erlebnisse ging es zurück nach Dortmund zur Familie. „Meine Schwester und ich haben unseren Eltern gesagt, dass wir nie wieder eine Kur machen wollten.“ Mehr nicht. Er kann sich nicht daran erinnern, konkret von den Ereignissen berichtet zu haben. Die Sache war durch. Das Geschehene im Gedächtnis vergraben, um belastende Gefühle zu vermeiden.

Dort blieb es. Im Theologie-Studium genauso wie in der Zeit der Familiengründung und in den mehr als 30 Jahren in der Bildungsarbeit des Bistums Münster. Selbst in seiner langjährigen Fortbildung zum Gestalts-Psychotherapeuten: „Ich habe mich damals viel mit meiner Lebensgeschichte auseinandergesetzt – dieses Kapitel aber habe ich nie ausgegraben.“

Die „Blackbox“ wurde geöffnet

Und doch muss er etwas preisgegeben haben. Etwas, das die Menschen um ihn herum aufhorchen ließ. Etwas, das sie auf seine Kur im Jahr 1967 aufmerksam machte. „Vielleicht Nebensätze, die ich selbst nicht wahrnahm.“ Seine Tochter Lena wohl, denn sie zeigte irgendwann vermehrtes Interesse an seiner „Blackbox“. Die Journalistin schrieb vor sieben Jahren einen Artikel über das Thema Verschickungskinder für die „Zeit“, auch ihn befragte sie dazu. Und stieß damit seine eigene Aufarbeitung an.

2019 wollten seine Schwester und er sich den dunklen Gefühlen stellen und reisten gemeinsam nach Sylt. „Wieder über den Hindenburgdamm – wir waren anders aufgeregt als 50 Jahre zuvor.“ Es waren intensive Tage, in denen sie Orte wiedererkannten, Gebäude suchten und alte Wege fanden. Und in denen sie ein Ritual pflegten. „Wir haben unsere ganze Wut imaginär auf einen großen Stein am Strand abgeladen und ihn weit fortgeworfen.“

Enge Geschwisterlichkeit

Vollmer sagt, dass die Insel damals für sie ihre Schuld wieder verlor. Die Zeit mit seiner Schwester war enorm wertvoll: „Wir sind dabei noch einmal in die enge Geschwisterlichkeit geführt worden, die uns dort sechs Wochen genommen wurde.“

Die Auseinandersetzung mit jener Zeit bekam in der vergangenen Zeit eine weitere Tiefe. Seine heute 38-jährige Tochter erweiterte ihre Recherchen, schrieb ein Buch und produzierte eine ARD-Dokumentation. Vollmer und seiner Schwester wurden darin zu wichtigen Gesprächspartnern und Protagonisten. Sie fuhren wieder nach Sylt, dieses Mal mit einem Kamera-Team. „Meine Tochter ist sehr sensibel mit uns umgegangen“, sagt er. „Sie wollte vermeiden, dass wir in irgendeiner Form retraumatisiert wurden.“

Nicht in die Knie gegangen

Er weiß auch durch die Recherchen seiner Tochter, dass es weit größere Traumatisierungen unter den Verschickungskindern gab. „Da haben viele viel Schlimmeres erleben müssen und sind daran zerbrochen.“ Seine Erlebnisse haben sein Leben nicht zerstört, der Inhalt seiner „Blackbox“ hatte nicht die Macht, ihn in die Knie zu zwingen. So traurig und brutal sie auch waren, sie hatten dazu nicht die Wucht.

Und doch schaut er heute mit mehr Leichtigkeit auf die Auseinandersetzung. Er konnte aufräumen, sich versöhnen, Dinge klarstellen. Vielleicht sieht er sich auch deshalb wie eine „positive Klammer“ in der Dokumentation seiner Tochter. Seine Geschichte steht am Anfang und am Ende des Films, der dazwischen von viel größeren Grausamkeiten berichtet. Vollmer hat dabei die Chance am Schluss ein befreiendes Zeichen zu setzen: Er steht am Strand von Sylt und wirft einen Stein, einen viel kleineren Stein als noch vor Jahren, in die Wellen.

Buch und ARD-Dokumentation
„Verschickungskinder – eine verdrängte Geschichte“ heißt das Buch von Lena Gilhaus, das im Verlag Kiepenheuer und Witsch in diesen Tagen erscheint. Wie in der 45-minütigen ARD-Dokumentation zu diesem Thema zeichnet sie darin ein Bild jener Kuren, in die Kinder noch bis in die 1980er Jahre geschickt wurden. Das Konzept damals: Zu Kräften kommen und gesund werden. Die seelische Gesundheit aber spielte dabei oft keine Rolle. Die Reaktionen auf ihre Recherchen sind intensiv. Es gibt viele Rückmeldungen von Menschen mit ähnlichen Erlebnissen wie die ihres Vaters Matthias Vollmer. Die Dokumentation ist am Montag, 3. Juli, um 23 Uhr in der Reihe „ARD History“ zu sehen, in der ARD-Mediathek ist sie bereits abrufbar.

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