Tom Hegermann zur Welt von gestern und von heute

Jahrzehntelang ging es nur bergauf - ist damit jetzt wirklich Schluss?

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Der nächsten Generation sollte es immer besser gehen. Mit diesem Paradigma scheint Schluss zu sein. Einen Anspruch auf stete Verbesserungen haben wir nicht, stellt Journalist Tom Hegermann in seinem Gast-Kommentar fest.

Ich bin in den 1960er Jahren groß geworden. Die Wohnung meiner Eltern war 48 Quadratmeter groß. Sie wurde mit einem Kohleofen im Wohnzimmer beheizt. Im Bad hing ein Radiator. Gebadet wurde einmal die Woche. Die Fenster waren einglasig.

Das ist lange her. Seitdem ist es fast immer nur bergauf gegangen. Unsere Wohnung heute hat 140 Quadratmeter für zwei Personen. Wir haben zwei Duschen. Mein Wagen hat fünfmal soviel PS wie der meiner Eltern damals. Uns geht es viel besser.

Mit „immer nur bergauf“ ist Schluss?

Immer nur bergauf. Und damit soll jetzt Schluss sein? Neulich habe ich in einem einzigen Satz das zusammengefasst gelesen, was wir bis jetzt ja nur ahnen, aber nicht wirklich wahrhaben wollen. Der Satz ging so: „Die Generation, die jetzt heranwächst, ist die erste seit sehr langer Zeit, die nicht mit dem Versprechen ‚Ihr werdet es mal besser haben‘ groß wird.“

Und dann wundern wir uns, dass sie sich die „letzte Generation“ nennt und sich ja am liebsten nicht an Straßen und Bildern, sondern konsequenterweise an uns alten Knackern festkleben möchte, in der Hoffnung, wir mögen doch bitte zur Vernunft kommen.

Das ist die eine Reaktion: Den radikalen Wandel anstreben. Das Wachstumsversprechen hinterfragen. Neue Wege fordern. Bereit sein für eine Veränderung.

Realitätsverweigerung als Konzept

Der Autor:
Tom Hegermann hat als Journalist unter anderem 25 Jahre lang im Radio bei WDR 2 moderiert. Heute arbeitet er vor allem als Moderator von Veranstaltungen und als Trainer rund um das Thema „Handwerk fürs Mundwerk“.

Die andere Reaktion zeigt sich beispielhaft an einem der vielen herausfordernden Themen in diesem formschönen und sprachgewaltigen Aufkleber, der gerne an dicken Autos prangt: „Fuck you, Greta!“ Realitätsverweigerung als politisches Konzept. Nix hören wollen, nix sehen wollen, aber die Klappe aufreißen bis zum Anschlag.

Viele von uns meinen tatsächlich, wir hätten so etwas wie ein Anrecht darauf, dass es immer nur bergauf geht. Und wenn das nicht mehr klappt, ist im Zweifelsfall immer die Politik schuld. Jedenfalls nicht wir selbst.

Wohin uns diese Einstellung gebracht hat, das sehen wir jetzt nach und nach. Leider ändert sich die Welt gerade etwas schneller als unser Bewusstsein und Gewissen.

Es sind eben tatsächlich nicht nur die jungen Demonstranten, die sich ständig irgendwo festkleben. Eigentlich kleben wir selber alle fest. Nur nicht an Straßen und Bildern, sondern an einer Welt von gestern, die heute ins Wanken gerät und morgen nicht mehr funktionieren wird. Was also brauchen wir? Ein Lösemittel.

In unseren Gast-Kommentaren schildern die Autor:innen ihre persönliche Meinung zu einem selbst gewählten Thema. Sie sind Teil der Kultur von Meinungsvielfalt in unserem Medium und ein Beitrag zu einer Kirche, deren Anliegen es ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen.

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