Anzeige
Heute wird in Köln das Gutachten des Strafrechtlers Björn Gercke über den Umgang der Verantwortlichen des Erzbistums Köln mit Fällen sexuellen Missbrauchs vorgestellt.
Im Herbst 2020 hatte Kardinal Rainer Maria Woelki den Juristen mit der Untersuchung beauftragt, nachdem der Erzbischof ein erstes Aufarbeitungsgutachten einer Münchner Kanzlei nicht veröffentlichen lassen wollte. Er halte es für fehlerhaft und nicht rechtssicher, hieß es zur Begründung. Kritiker werfen dem Kardinal mangelnden Aufklärungswillen vor.
Die heute vorzustellende Expertise soll auch jene Verantwortlichen benennen, die Täter geschützt und Verbrechen vertuscht haben. Eigenen Angaben zufolge erfährt auch Woelki die Ergebnisse der Untersuchung erst heute. Das neue Gutachten liegt bereits der Staatsanwaltschaft vor.
Ab 10 Uhr werden die Ergebnisse in einer Pressekonferenz vorgestellt. Am 23. März sollen in einer zweiten Pressekonferenz "Konsequenzen aus dem Gutachten" präsentiert werden.
+++ LIVETICKER +++ LIVETICKER +++ LIVETICKER +++
10:00 - Die Pressekonferenz beginnt. Im Kölner Maternushaus sind neben den Vortragenden auch einige Journalisten anwesend. Oliver Schillings, kommissarischer Pressesprecher des Erzbistums, eröffnet die Veranstaltung. 120 Personen sind zudem digital zugeschaltet. Nach der Vorstellung des Gutachens soll es die Möglichkeit geben, Fragen zu stellen. Alle Personen im Saal sind am Morgen negativ auf Corona getestet worden.
Auch Kardinal Rainer Maria Woelki und Generalvikar Markus Hofmann sind mit im Saal. Ihnen wird das Gutachten im Anschluss übergeben. Der Kardinal werde heute das Gutachten selber erstmals lesen und sich am Ende der Veranstaltung äußern. Fragen sind nicht möglich. Anschließend werde Woelki die Ergebnisse mit dem Betroffenen-Beirat des Erzbistums diskutieren.
10:10 Der Strafrechtler Björn Gercke beginnt mit seinen Auführungen. Er weist auf die vielfältige Berichterstattung hin. Es gehe hier um ein juristisches Gutachten. Er und sein Team seien weder Historiker noch Theologen noch Kriminologen. Sie sähen ihr Gutachten nur als Teil der Aufarbeitung. Der Gutachten-Text umfasst 800 Seiten - gegenüber 300 Seiten des ersten Gutachtens der Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW), das bislang vom Erzbistum zurückgehalten wurde. Das Gutachten von Gercke sei ungeschwärzt.
Björn Gercke: Grundlagen seien diverse schriftliche Unterlagen wie Akten, Protokolle, Interviews und Befragungen. Zehn noch lebende Personen seien befragt worden, denen Pflichtverletzungen vergeworfen werden könnten. Betroffene, Täter und Beschuldigte wurden nicht befragt. Allen zu befragenden Personen wurde freigestellt, zu antworten und einen Anwalt hinzuzuziehen. Sämtliche Verantwortungsträger - mit einer Ausnahme - erklärten sich zur Zusammenarbeit bereit.
Gercke äußert sich zur Methodik: Die bisherigen Missbrauchs-Studien sind in Deutschland sehr unterschiedlich hinsichtlich der Methodik und daher nicht miteinander vergleichbar. Herausforderung war, eine eigene juristische Methodik zu entwickeln. Empirische und Einzelfalluntersuchungen wurden miteinander verbunden. Ein Querschnitt aller Fälle sei nicht möglich gewesen, weil alle Fälle zu unterschiedlich sind. Sie würden einzeln und anonymisiert dargestellt. Es musste mit dem Aktenbestand gearbeitet werden, wie er vom Erzbistum Köln zur Verfügunge gestellt wurde. Das Erzbistum hat gleichwohl eine Vollständigkeitserklärung abgegeben. Das schließe nicht aus, dass die Akten unvollständig berichten. Im Untersuchungszeitraum von 1975-2018 wurden mindestens zwei Mal Aktenvernichtungen vorgenommen, wie sie das Kirchenrecht allerdings auch vorschreibe.
Gercke: Erzbischof, Generalvikar, Offizial, Seelsorgeamtsleiter, Justiziar wurden überprüft. Zwei Kirchenrechtler standen zur Hilfe bereit: Professor Helmuth Pree von der Universität München und Stefan Korta.
Gercke: Es gab "Giftakten". Kardinal Joachim Meisner (+2017) führte eine Akte über "Brüder im Nebel", in dem er geheimhaltungspflichtige Unterlagen führte. Es wurden immer wieder Akten nachgereicht an die Kanzlei Gercke. Es sei der Eindruck entstanden, dass es dem Erzbistum Köln ein Herzensanliegen sei, sie zu unterstützen. Das Erzbistum habe darum gebeten, auch sämtliche unleserliche Dokumente zu identifizieren und in die Bewertung einzubeziehen.
Gercke: Bei der Durchsicht der zur Verfügung gestellten Dokumente gab es Listen mit Namen, die im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch geführt worden. 20 Namen sind nicht in den Akten geführt. Die Aktenführung war lange Zeit sehr mangelhaft. 236 Aktenvorgänge geprüft: Es gibt 202 Beschuldigte und 314 individualisierbare Betroffene.
Gercke: 63 Prozent der Beschuldigten waren Kleriker, 33 Prozent Laien. 57 Prozent der Betroffenen waren männlich, 38 Prozent weiblich. Die Missbrauchten waren zu mehr als der Hälfte jünger als 14 Jahren. Rund die Hälfte der Fälle betreffen sexuellen Missbrauch oder schweren sexuellen Missbrauch. Die Taten erfolgten zu einem Viertel im Rahmen privater Treffen, zudem besonders in der Kinder- und Jugendbetreuung (18 Prozent). Die meisten Verdachtsfälle (36 Prozent) fallen in die Zeit vor 1975. Untersuchung gilt aber nicht dem Zeitpunkt der Taten, sondern dem auch später erfolgten oder nicht erfolgten Umgang des Erzbistums mit diesen Missbrauchsfällen. Jahrzehntelang hat sich offenbar niemand getraut, solche Fälle zur Anzeige zu bringen. Gemeldet wurden sie - das ist signifikant - mit dem Aufkommen der Missbrauchsdebatte ab 2010: 2010-2014 (44 Prozent), 2015 bis 2018 (18 Prozent). Knapp die Hälfte der Fälle wurde laut Aktenlage vom Erzbistum angehört. Es gab einen Unterschied dabei, wie das Erzbistum mit Priestern als Beschuldigten umgegangen ist und wie mit Laien als Beschuldigten. Letztere seien öfter mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen belegt worden.
10:30 Kerstin Stirner (Kanzlei Gercke): Über viele Jahre herrscht im Umgang mit Missbrauch Chaos, subjektive Unzuständigkeit. Es gab fünf Pflichtenkreise bei den Verantwortlichen im Erzbistum Köln:
1. Aufklärungspflichten: der Umgang mit einem Verdacht.
2. Anzeige- und Informationspflicht: Kanonische Pflicht zur Anzeige bei den Strafverfolgungsbehörden und bei der Glaubenskongregation in Rom, aber auch gegenüber dem Erzbischof und Generalvikar.
3. Sanktionierungspflicht nach kanonischem Recht.
4. Verhinderungspflichten: Was war erforderlich, um eine drohende Tatbegehung zu verhindern?
5. Betroffenenpflichten: Wie wurde mit den Betroffenen umgegangen?
Rolle von Offizial Günter Assenmacher: Das konnte nicht abschließend geklärt werden. Er selbst sah seine Rolle eher als reaktiv an, während sich andere Verantwortungsträger darauf verließen, dass er die notwendigen Dinge in Gang setzte.
Stirner betont erneut, dass die Bewertungen nach einem Ampelprinzip ausschließlich auf Grundlage der vorliegenden Akten erfolgt. Ihr Ergebnis:
24 "rote" Aktenvorgänge, bei denen mindestens ein eindeutiger Pflichtverstoß feststellbar war. Bei 104 Aktenvorgängen wurde eine "gelbe" Markierung gesetzt (eine Verletzung des Pflichtenkreises schien möglich, konnte aber nicht sicher bejaht oder verneint werden). Bei 108 Aktenvorgängen war die Bearbeitung nach Aktenlage nicht zu beanstanden ("grün").
Die roten Aktenvorgänge bildeten die Grundlage für individuelle Zuordnungen von Verantwortlichkeiten. Es gab keine Beantstandungen, wo Laien als Beschuldigte galten. Es gab keine Pflichtverletzungen nach den Normen des weltlichen Rechts. Hinsichtlich dieser Personengruppe sei die Bearbeitung reibungslos und konsequent verlaufen.
Weihbischöfe wurden namentlich nicht benannt, weil sie ihnen keine Entscheidungskompetenz zukommt. In Personalkonferenzen sind sie lediglich beratend tätig. Gleichwohl haben sie eine tragende Rolle im Verhältnis zwischen Bistumsleitung und Gemeinden. Wie einzelne Weihbischöfe auf einzelne Fälle reagiert haben, lässt sich aus den Dokumenten nicht darstellen.
10:40: Gercke: Aus den 236 zur Verfügung gestellten Aktenvorgängen konnten 24 mit eindeutigen Pflichtverletzungen definiert werden. Innerhalb dieser 24 Vorgänge konnten 75 Pflichtverletzungen insgesamt von acht lebenden und verstorbenen Personen betreffen den Zeitraum 1975-2018. Eine Aussage über Wahrheitsgehalt und Nachweisbarkeit der zugrundeliegenden Verdachtsmeldungen kann hier nicht getroffen werden. Auch bei den verbleibenden 212 Aktenvorgängen kann es daher zu Pflichtverletzungen gekommen sein. Kanzlei hat strenge Maßstäbe angelegt. Daher wird es Pflichtverletzungen auch in anderen Bistümern wie Trier oder Essen, aber auch in anderen Erzbistümern geben.
Namentliche Zuordnungen:
Joseph Höffner: Acht Pflichtverletzungen bei sechs verschiedenen Aktenvorgängen: sechs Verstöße gegen die Aufklärungspflicht, zwei Verstöße gegen die Pflicht zur Opferfürsorge.
Joachim Meisner: 24 Pflichtverletzungen bei 14 Vorgängen: Sechs Verstöße gegen die Aufklärungspflicht, neun Verstöße gegen die Meldepflicht, zwei Verstöße gegen die Sanktionierungspflicht, ein Verstoß gegen die Verhinderungspflicht und fünf Verstöße gegen die Pflicht zur Opferfürsorge. Ein Drittel aller Pflichtverletzungen treffen ihn.
Rainer Maria Woelki: Keine Pflichtverletzungen. Es könne nicht rückwirkend Recht angewendet werden, insbesondere nicht Empfehlungen aus dem "Vademecum" von 2020 für einen Vorgang aus 2011 oder 2015. Gercke stellt zudem fest: Hätte der Kardinal wirklich etwas bezüglich seiner Person zu vertuschen gehabt, hätte er das Münchner Gutachten durchwinken können und einen Rechtsstreit riskieren können. Schließlich habe Woelki gewusst, dass er in dem Münchner Gutachten nicht auftauchen würde.
10:47 Kerstin Stirner (Kanzlei Gercke):
Generalvikar Norbert Feldhoff: Acht Pflichtverletzungen bei fünf Aktenvorgängen: sieben Verstöße gegen die Aufklärungspflicht und sechs Verstöße gegen die Pflicht zur Opferfürsorge.
Generalvikar Dominikus Schwaderlapp (heute Weihbischof im Erzbistum Köln): Acht Pflichtverletzungen bei fünf Vorgängen: zwei Verstöße gegen die Aufklärungspflicht und sechs Verstöße gegen die Meldepflicht.
Personalchef, Generalvikar und Diözesanadministrator Stefan Heße (heute Erzbischof von Hamburg): Elf Pflichtverletzugnen bei neun Vorgängen: sechs Verstöße gegen die Aufklärungspflicht, fünf Verstöße gegen die Meldepflicht.
Offizial Günter Assenmacher: In zwei Fällen war eine durch ihn erteilte Rechtsauskunft unzutreffend. Als MItglied des Beraterstabs, der Personalkonferenz sowie des von Generalvikar Schwaderlapp gegründeten "informellen Gremiums" habe er aber um die konkreten Missbrauchsfälle gewusst. Auf bestehende Defizite in der Normbefolgung habe Assenmacher nicht hingewiesen.
Stirner berichtet über massive juristische Unkenntnis bei allen Beteiligten. Das habe mit einer intransparenten Normsetzung etwa durch Geheimhaltung von Normen zu tun. Eng damit verbunden sei, das Zuständigkeiten weder rechtlich noch faktisch klar gewesen seien und weiterhin sind. Hier sei dringend Abhilfe geboten.
Stirner: Die Welle an Meldungen ab 2010 habe offenbar die Verantwortlichen überfordert. Das könne dadurch bestärkt worden sein, dass sie nicht auf diese Aufgaben vorbereitet oder ausgebildet worden seien. Ursächlich für verfestigte Defizite dürften fehlende interne und externe Kontrollmechanismen gegeben habe. Es habe wenig Austausch mit anderen Fachrichtungen zum Perspektivwechsel gegeben. Die sonst so strenge Sexualmoral kam beim Umgang mit Missbrauch durch Kleriker nicht zur Geltung. Missbrauch war nur deshalb erfasst, weil der Täter gegen seine Amtspflichten verstoßen hat. Das verunmöglichte einen adäquaten Blick auf die Betroffenen.
10:55: Gercke: Es gab immer wieder Bestrebungen, Fälle zu vertuschen. Dabei ging es darum, Reputationsschäden von der Kirche abzuwenden und die Beschuldigten Kleriker im System zu halten. Es drängt sich das Bild eines planlosen Handelns auf. "Wir sprechen nicht von systematischer, aber system-bedingter Vertuschung."
Juristische Handlungsempfehlungen an Erzbistum Köln:
1. Hinwirken auf eine Fortentwicklung des universalen Kirchenrechts
2. Beseitigung der Widersprüche zwischen der Missbrauchsordnung der Deutschen Bischofskonferenz und den Vorschriften des gesamtkirchlichen Rechts.
3. Vereinheitlichung der Rechtsanwendung.
4. Stärkung der Interventionsstelle durch Optimierung von Zuständigkeitsverteilungen und Aufgabenbeschreibungen
5. Verbesserung der Aktenführung
6. Gewährleistung einer unabhängigen Aufarbeitung
7. Strukturelle Trennung der Interventionsstelle vom Offizialat
8. Aufbau einer Kompetenzstelle für Kirchenstrafrecht
9. Anforderungsspezifische Fortbildung
10. Konzentration auf dei Bearbeitung aktueller Verdachtsmeldung durch Schaffung einer Geschäftsfstelle und einer Stelle für die Betroffenennachsorge
11. Ausbau des Hinweisgebersystems: Ombudsperson und Whistleblower-Hotline
12. Sanktionierung von Fehlverhalten
13. Einführung eines zentralen Verfahrenregisters
14. Obligatorische Berücksichtigung der Erkenntnisse der Interventionsstelle bei Personalentscheidungen und Austausch mit anderen Bistümern
15. Einrichtung eines internen Kontroll- und Evaluierungssystems
16. Einführung einer Stelle zur Überwachung der Einhaltung der Auflagen
17. Turnusmäßige Berichtspflicht an den Erzbischof
11:05 Es beginnt die Fragerunde der Journalisten - zunächst zur Methodik.
Gercke berichtet, es habe aus strafrechtlicher Perspektive kein Fall von Strafvereitelung festgestellt werden können.
Raoul Löbbert von "Die Zeit / Christ und Welt" fragt, warum Interventionsbeauftragte und Missbrauchs-Beirat nicht gehört wurden. Gercke antwortet: Auftrag war, Pflichtverletzungen anhand der Akten zu überprüfen. Aus juristischer Sicht sei das auch nicht erforderlich gewesen.
11:30 Björn Gercke übergibt das Gutachten an Kardinal Rainer Maria Woelki
11:33 Kardinal Rainer Maria Woelki äußert sich zum Gutachten. Er dankt Gercke und Stirner. Er, Woelki, habe diesen Tag herbeigesehnt und auf ihn zugelebt - und ihn "gefürchtet wie nichts anderes". Es sei bekannt, dass Geistliche Vertrauen missbraucht und Kindern Gewalt angetan haben - ohne dass sie dafür bestraft und die Betroffenen gehört und geschützt worden wären. "Das ist Vertuschung", sagt Woelki. "Höchste Verantwortungsträger haben diese Taten nicht nach Rom gemeldet" und Strafverfahren und Untersuchungen verhindert. Auch seine Vorgänger hätten sich vielfach schuldig gemacht. "Nichts geahnt" sei seit heute nicht mehr möglich und nicht mehr denkbar.
Woelki beklagt, schwere Pflichtverletzungen habe es nicht bei beschuldigten Priestern, wohl aber bei Laien als Beschuldigten gegeben. Das berühre und beschäme ihn zutiefst. Handeln müsse auch für Kleriker Konsequenzen haben, sagt Woelki.
Der Kardinal entbindet Weihbischof Dominikus Schwaderlapp und Offizial Günter Assenmacher mit sofortiger Wirkung von seinen Aufgaben. Woelki kündigte an, das Gutachten noch heute nach Rom weiterzuleiten.
11:39 Das Gutachten wird an den Sprecher des Betroffenen-Beirats, Peter Bringmann-Henselder, übergeben. Er dankt dafür und zeigt sich überrascht von dieser ersten personellen Konsequenz durch den Erzbischof. Er sei nicht andererseits nicht überrascht, weil er den Kardinal genau so kennengelernt habe.
11:45 Wir beenden den Liveticker und verweisen auf unsere aktuelle Berichterstattung.
UPDATE: Zahlen, Korrekturen, Konkretisierungen - 18.03.2021, 14:55 (mn)
Der Text des Gutachtens
Das gesamte Gutachten der Kanzlei Gercke/Wollschläger kann hier eingesehen werden.