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„Dilettantismus, Verschleierung oder Vertuschung“ bis in 1990er Jahre hinein – so beschreibt die Aufarbeitungskommission der Diözese Rottenburg-Stuttgart den früheren Umgang mit sexuellem Missbrauch. Die Situation Betroffener spielte quasi keine Rolle.
Die Aufarbeitungskommission der Diözese Rottenburg-Stuttgart stellt dem Bistum in seinem früheren Umgang mit sexuellem Missbrauch ein verheerendes Zeugnis aus. In der Diözese sei „bis in die 1990er Jahre hinein eine für den Umgang mit sexuellem Missbrauch durch Kleriker problematische Gemengelage wirksam“ gewesen, heißt es in dem am Donnerstag bekanntgewordenen Jahresbericht 2023 der Kommission. Diese Gemengelage habe bestanden „aus Dilettantismus, Überforderung und Inkompetenz, Verschleierung oder Vertuschung, Sprachlosigkeit, Befangenheit und eigener Betroffenheit durch persönliche, berufliche und vor allem geistliche Verbindungen zu den Tätern“.
Das lasse sich als ein erstes Ergebnis der Zeitzeugengespräche und Aktenauswertungen der seit zwei Jahren tätigen Kommission festhalten. Auf „sämtlichen Ebenen“ sei im Kontrast dazu jedoch „in der neueren Zeit eine deutliche Professionalisierung, ernsthafte Auseinandersetzung und Konfrontation mit dem Thema sexualisierte Gewalt festzustellen“. In früheren Jahren habe es hingegen „eine klare Tendenz zur Vertuschung und zum Schutz der Institution Katholische Kirche vor der Öffentlichkeit und vor den staatlichen Strafverfolgungsbehörden“ gegeben. Selbst kirchliche Strafen seien „so 'getimed' worden, dass es möglichst nicht auffiel“, heißt es in dem Bericht.
Kaum Platz für Situation Betroffener
Die Situation Missbrauchsbetroffener habe kaum eine Rolle gespielt. „Ein Verhalten der Kirche gegenüber Betroffenen ist in früheren Jahren fast nicht vorhanden“, schreibt die Kommission in dem auf ihrer Internetseite veröffentlichten Jahresbericht. Auch in Gutachten zu den Taten sei es „fast immer nur um Täter“ gegangen. Es gab demnach eine „fast übertriebene Fürsorge gegenüber Beschuldigten“. Erst die Einrichtung der Kommission „Sexueller Missbrauch“ (KsM) durch den damaligen Bischof Gebhard Fürst im Jahr 2002 habe dazu geführt, dass Betroffenen „größere Empathie, Wertschätzung und Anerkennung“ entgegengebracht worden seien.
Die Behandlung von Missbrauchsfällen geschah „früher nur unter vier Augen“ von Bischof und Personalchef des Bistums, hieß es weiter. Meist gab es demnach keine Einbeziehung des Generalvikars, weiterer Referenten oder Experten und keine offenen Diskussionen in Gremien des Bischöflichen Ordinariats. Hier habe es erst Änderungen durch die Einrichtung der Kommission „Sexueller Missbrauch“ im Jahr 2002 und einer Task-Force im Bischöflichen Ordinariat im Jahr 2009 gegeben.
Kardinal Kasper zehn Jahre Bischof
Früher habe es auch keine einheitlichen Standards der Aktenführung in Missbrauchsfällen gegeben. „So gab es die Akten im Geheimarchiv im Bischofshaus, die Handakten der Personalverantwortlichen und die Vorermittlungsakten (ohne zusammenfassende Deckblätter)“, erläuterte die Kommission. Außerdem habe es „viel verbale Kommunikation ohne nachfolgende Aktenvermerke“ gegeben – eine „Kultur der Oralität“.
Der vor wenigen Monaten aus dem Amt geschiedene Bischof Gebhard Fürst amtierte von September 2000 bis Dezember 2023. Zuvor war Kardinal Walter Kasper von Juni 1989 bis Mai 1999 Bischof der Diözese Rottenburg Stuttgart. Die Kommission betonte, dass Zeitzeugengespräche mit früheren Personalverantwortlichen – inklusive Kardinal Kasper und dem früheren Diözesanadministrator sowie Weihbischof Johannes Kreidler – Erkenntnisse zu Verfahrensabläufen, zum Verhalten der Kirche zu Tätern und Betroffenen sowie zur Aktenbehandlung erbracht hätten.