Oldenburger Priester engagiert sich nicht nur für Flüchtlinge

Pfarrer Nachtwey schmerzt der Krieg in der neuen alten Heimat Ukraine

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Er stammt aus der Ukraine. Mit Eltern und Bruder wurde er als Sechsjähriger ausgebürgert, 1960, in der Sowjetzeit. Damals musste die Familie auch ihre Namen ändern. Heute lebt Uwe Nachtwey als Pfarrer in Oldenburg. Von dort aus hat er nach der Unabhängigkeit seiner Heimat seine Verwandtschaft wiedergefunden – und fühlt jetzt besonders mit ihnen. Besuch bei einem Mann, den mit dem Land im Krieg eine ganze Lebensgeschichte verbindet.

Auch er leidet an diesem Krieg. An den Bildern von zerstörten Städten, Opfern, Menschen auf der Flucht. Uwe Nachtwey nickt und sagt: „Natürlich schmerzt das.“ Schließlich ist er in der Ukraine geboren. Und das Land ist in den vergangenen Jahren immer mehr zu dem geworden, was es ursprünglich war: alte und neue Heimat.

Auch wenn das schon lange her ist, dass der 68-jährige Pfarrer aus Oldenburg selbst dort lebte. Damals noch unter seinem ersten, einem anderen Namen. Einem von dreien, aber davon später mehr.

Familie durfte nach Berlin-Besuch nicht zurück

Als Kind hätte er es sich nicht träumen lassen, dass das jemals anders werden würde. Bis zu jenem Besuch bei Verwandten in Berlin, 1960. Sechs Jahre alt war er da. Anfangs wunderte sich die Familie, dass sie alle zusammen in den Westen durften, seine Eltern mit ihren beiden Jungs. Aus der Sowjetunion, zu der die Ukraine damals zählte, zur Großmutter und einer Tante, die im Westen Berlins, in einer Parallelstraße zum Kurfürstendamm, ein Feinkostgeschäft betrieben.

Kurz vor dem Rückflug auf dem Flughafen dann das „Njet“: Es gab kein Zurück. Die Ausreisegenehmigung war als Ausbürgerung gemeint. Wohl wegen seiner Mutter vermutet Uwe Nachtwey: „Sie hatte im ukrainischen Widerstand gekämpft. Zuerst während des Krieges gegen die deutschen Besatzer und danach gegen die Sowjetunion für eine freie Ukraine.“ Solche Störenfriede wollten die Sowjets loswerden. Ein Schock für die Familie. „Wir wollten damals ja gar nicht nach Deutschland auswandern.“

Als Kind herausgerissen aus seiner Heimat

Eltern und Kinder bleiben in Berlin, nehmen sicherheitshalber eine neue Identität an. „In meinem Pass stimmte nur noch das Geburtsdatum“. Der Junge bekommt einen neuen Namen, seinen zweiten, und heißt fortan und bis heute Uwe Nachtwey. Es ist eine schwierige Zeit, in der er mit den abrupten Veränderungen zu kämpfen hat.

Damals erlebt er vielleicht auch ein bisschen von dem, was aus der Ukraine geflüchtete Kinder heute auch durchmachen müssen: Herausgerissen zu werden aus der alten Heimat, weg von vertrauten Gesichtern und Freunden. Gezwungen, sich eine neue Sprache zu eigen zu machen.

Er besucht Geflüchtete in ihren Unterkünften

Bei Besuchen in Unterkünften für Geflüchtete in Oldenburg begegnet der Pfarrer ihnen. Wenn er Zeit hat, bringt er dabei den Kindern etwas Deutsch bei. Oder er spricht mit den Müttern über ihre Sorgen und Ängste. „Die meisten Geflüchteten wollen so schnell wie möglich zurück nach Hause. Sie leiden darunter, dass der Kontakt zu den Männern abgerissen ist.“

Er selbst hatte sich als Kind und Jugendlicher irgendwann in der neuen Lage eingerichtet. Nur im Unterricht bleibt er zunächst bei seinem Protest. „Ich schaltete auf stumm, reagierte nicht auf Lehrer. Ich habe mich nur hingesetzt und geschwiegen“, sagt er. „Dennoch schrieb ich in den Klausuren Bestnoten.“

In Münster für Theologie entschieden

Relativ schnell beginnen die ersten Jahre der Kindheit zu verblassen. Der Berliner Westen ist nun sein Kiez, bald fühlt er sich dort heimisch. So, dass er heute meint: „Ich hatte eine Berliner Kindheit!“ Man hört es seinem Dialekt bis heute an. Das Ukrainische dagegen verblasst mehr und mehr. Der Kontakt zu Verwandten in der Heimat ist der Familie verboten. Ukrainisch sprechen die Eltern nur noch, wenn es die Kinder nicht verstehen sollen.

Zum Studium geht Uwe Nachtwey nach Münster. Zuerst Germanistik, Philosophie, Psychologie. Bis er zum ersten Mal Vorlesungen des späteren Bischofs von Limburg, Franz Kamphaus, hört. Er weiß noch, wie seine Mutter aus allen Wolken fiel, als er ihr mitteilte, katholische Theologie studieren wollen, um Priester zu werden. Ausgerechnet. Eine Freundin der Mutter habe die Reaktion auf den Punkt gebracht: „Er war doch immer so ein netter Junge und jetzt das.“

Eltern ließen ihn viermal taufen – wegen der schönen Feier

„Katholisch war ich ja“, sagt Uwe Nachtwey, schmunzelt und erklärt. „Also: auch katholisch. Meine Eltern hatten mit Kirche nicht ansatzweise was am Kopf.“ Seine Mutter sei eine „stolze Heidin“ gewesen. „Wir sind am Wochenende in den Garten gegangen, aber doch nicht in die Kirche! Wat woll’n wir da?“

Aber: Die Eltern fanden die Taufe schön, die Feier an sich. „Deshalb haben sie mich in der Ukraine innerhalb von einer Woche viermal taufen lassen: russisch-orthodox, ukrainisch-orthodox, griechisch-katholisch und römisch-katholisch.“ Uwe Nachtwey: „Kirchenrechtlich total daneben. Aber so war es eben.“

Mutter ging zurück in die Ukraine

Priester wird er später dennoch und ist heute in der Oldenburger St.-Marien-Pfarrei im Einsatz. Und er hat in den vergangenen dreißig Jahren von Deutschland aus die Ukraine nach und nach immer mehr als alte Heimat wiederentdeckt, anfangs wegen seiner Mutter.

Nachdem das Land endlich wieder selbständig geworden war, war sie – mittlerweile Witwe – zurückgegangen nach Davidivka, ihr Dorf in der Nähe der Stadt Chernivtsi im Westen des Landes. „Sie wollte ja nie nach Deutschland.“

Er gibt ukrainischen Studenten Deutschunterricht – online

Auch Uwe Nachtwey selbst war seither regelmäßig dort. Über die Universität Münster hatte er Kontakt zur Universität Chernivtsi bekommen. Bis heute gibt er ukrainischen Studierenden Sprachunterricht, jedes Semester ein, zwei Kurse, online per Bildschirm von Oldenburg aus. Bis der Krieg dem vorerst ein Ende machte.

„Zuletzt hatte ich eine Gruppe aus Charkiw“, sagt Uwe Nachtwey und erzählt von der Mitteilung einer Studentin: „Morgen können wir keinen Kurs mehr machen. Von unserem Studentenwohnheim existiert nur noch die erste bis dritte Etage und die fünfte bis siebte. Was dazwischen war, ist nicht mehr da. Wir hoffen, hier noch heil rauszukommen, bevor das Haus einstürzt.“

Verwandte leben in der Ukraine

Solche Berichte treffen den Mann, der mittlerweile seine Verwandtschaft in der Ukraine wiedergefunden hat. „Alle leben dort. In Deutschland habe ich Freunde, aber keinen einzigen Verwandten.“ Deshalb seien diese Beziehungen für ihn in den vergangenen Jahren immer wichtiger geworden.

Dazu kommen die Touren, die ihn bis vor kurzem jedes Jahr für mehrere Wochen zu Lesereisen in die Ukraine geführt haben. Denn als Kinderbuchautor habe er sich außer in Deutschland auch einen Namen dort gemacht, sagt Uwe Nachtwey, allerdings nicht seinen richtigen.

Uwe Nachtwey verschenkt Kindergeschichten auf Ukrainisch an Geflüchtete

Seit Mitte der 1980er Jahre veröffentlicht der Pfarrer nebenher Kindergeschichten. Die ersten Bücher nennen noch Uwe Nachtwey als Autor. Seither benutzt er ein Pseudonym, seinen dritten Namen.

Gemeinsam mit seiner Dolmetscherin und mittlerweile auch Co-Autorin Oleksandra Kosovan war er bis vor kurzem einmal im Jahr für mehrere Wochen in der Ukraine unterwegs, in Schulen und Gemeindesälen. Uwe Nachtwey liest, Oleksandra Kosovan trägt die Übersetzung vor und auch ihre eigenen Gedichte.

Gemeinsam mit ihr hat er jetzt auch eine Auswahl von Texten für ukrainische Geflüchtete ausgesucht, die er in kleiner Auflage gedruckt herausgebracht hat und auf Anfrage auch per Mail als PDF-Datei verschickt. Vorlese-Geschichten für Kinder auf Ukrainisch. „Weil ich in Gesprächen mit ihren Müttern gehört habe, dass ihnen genau so etwas hier in Deutschland fehlt.“

Hat er Hoffnung? Uwe Nachtwey ist skeptisch. „Keiner weiß, was Putin vorhat. Es ist ja auch schon viel zerstört.“ Und doch kann er sich vorstellen, irgendwann dorthin zu ziehen. „Irgendwann, vielleicht.“

Interessierte können die Sammlung ukrainischer Kindergeschichten als Online-PDF-Version unter der E-Mail-Adresse samulynzi12(at)web.de direkt bei Pfarrer Uwe Nachtwey anfordern.

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