Zwischen gefühlten und echten Dramen

Schulseelsorgerin Yvonne Ahlers - Die Schüler nennen sie „Trösterin“

Anfangs hatte die Pastoralreferentin auch ein paar Stunden Religion unterrichtet. Aber bald wurde ihr klar: Benoten passt nicht zu ihrem Konzept von Schulseelsorge. Das setzt auf etwas Anderes.

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Anfangs spürte sie ein wenig Angst. Was für einen Titel würden die Schülerinnen und Schüler ihr wohl verpassen? „Die Tante von der Kirche“ vielleicht? Na ja. Immerhin hatte Yvonne Ahlers an der Paulusschule und der Liebfrauenschule von Anfang an deutlich gesagt: „Ich komme nicht als Lehrerin, sondern von der Kirche.“

Vor drei Jahren war das, als die Pastoralreferentin ihren Dienst an der bischöflichen Oberschule und dem wenige hundert Meter entfernten bischöflichen Gymnasium in der Stadt Oldenburg antrat. Fast erleichtert atmete sie auf, als eine Bekannte sie nach einiger Zeit ansprach. „Sag mal, weißt Du eigentlich, wie die Schüler dich nennen? Sie sagen: ,Wir haben jetzt eine Trösterin.‘“

 

Trösten ist Alltag für Yvonne Ahlers

 

Die 50-Jährige lächelt. „Damit kann ich gut leben! Denn Trösten ist Alltag in meinem Beruf.“ Zum Beispiel gerade erst wieder, während des mündlichen Abiturs. Sie war hautnah dabei, wenn sich im Gymnasium Liebfrauenschule wie jedes Jahr gefühlte und echte Dramen abspielten. „Die Abiturienten sind ja vor und nach den Prüfungen superaufgeregt.“


Yvonne Ahlers im Gespräch mit Schülern der Paulusschule Oldenburg. | Foto: Michael Rottmann

Deshalb hatte sie während der mündlichen Tests in einem Raum einen Treffpunkt bei Tee und Kuchen für die Kandidaten vorbereitet, stand für Gespräche bereit über Freuden, Ängste und Enttäuschungen. Und genau dort, inmitten von Tränen, Angst und Jubel spürte sie wieder, dass sie am richtigen Platz ist. „Ich bin Seelsorgerin geworden, weil ich für Menschen da sein wollte. Und hier ist dafür genau mein Ort.“

 

Vertrauen ist wichtig für Schulseelsorge

 

Vertrauen ist entscheidend für die Arbeit, sagt die Pastoralreferentin. Wichtig war für sie deshalb der klare Schnitt, den sie früh gemacht hat: keinen Unterricht mehr zu geben und damit auch keine Noten. Schüler hatten ihr das deutlich gemacht, gleich im ersten Jahr nach ihrem Wechsel in die Schulseelsorge. Damals stand sie noch ab und zu als Religionslehrerin an der Tafel.

„Das ist aber ein bisschen naiv“, sagten die Kinder, „dass wir mit unseren Problemen zu ihnen kommen sollen und sie uns gleichzeitig bewerten.“ Die Seelsorgerin nickt. „Da merkte ich, dass das kollidiert.“ Denn in der Seelsorge komme es an auf Beziehungen und Vertrauen.

 

Schweigepflicht schafft Vertrauen

 

Aber wie kann dieses Vertrauen überhaupt wachsen? Zum Beispiel durch eine klare Regel: ihre Schweigepflicht. „Das ist den Schülern enorm wichtig“, sagt die Pastoralreferentin, „dass sie wissen: Ich darf und werde ohne ihre Erlaubnis mit niemandem über ihre Probleme reden, weder mit Lehrern noch mit Eltern.“

Würden sie ihr sonst all ihre Sorgen und Ängste anvertrauen? Wenn es um Streit geht, Mobbing, Schwäche, Versagen? Yvonne Ahlers ist ab und zu nah dran an ziemlich schwierigen Geschichten. Nach ihrer Erfahrung sind ganz viele Kinder überfordert. Damit meint sie aber nicht etwa Notendruck oder Schulstress, sondern Probleme zu Hause.

 

Schüler schleppen oft familiäre Sorgen mit sich herum

 

Viele Schüler schleppten Nöte und Ängste mit sich herum. Sucht und Gewalt in der Familie zum Beispiel oder Eltern, die ihren Trennungs-Streit auf dem Rücken ihrer Kinder austragen. Aus zahllosen Gesprächen weiß die Seelsorgerin um das damit verbundene Leid. Sie stört sich deshalb auch am Begriff „Patchwork-Familie“.

„Der Begriff hört sich immer so nett an. Man denkt: Die kommen klar, die können damit umgehen.“ Aber das stimme oft gar nicht. „Patchwork bedeutet oft genug Konflikte, Ängste und Leid ohne Ende. Aber darüber wird einfach zu wenig gesprochen.“

 

Manchmal spürt Yvonne Ahlers ihre Hilfslosigkeit

 

Manchmal vermittelt sie Schüler auf deren Wunsch an Fachleute, zum Beispiel an Beratungsstellen. „Dieses Netz von Hilfe ist wichtig für meine Arbeit“, sagt Ahlers. Aber manchmal geht eben auch nicht mehr, als miteinander zu schweigen und Situationen zu ertragen. Dann spürt auch die „Trösterin“ ihre Hilflosigkeit und ihre Grenzen. „Wenn ich sehe, wie Kinder unter einer Situation leiden, aber partout nicht wollen, dass ich helfe. Weil sie selbst Angst haben oder weil sie ihre Eltern vor Konsequenzen schützen wollen.“


Yvonne Ahlers im Pausengespräch mit Schülern der Paulusschule Oldenburg. | Foto: Michael Rottmann

Die ganz großen Probleme sind aber nicht die Regel, oft geht es auch eine Nummer kleiner. Der Streit unter Freundinnen zum Beispiel oder die Angst vor der nächsten Klausur. Für die Schüler ist die Seelsorgerin da mittlerweile eine wichtige Adresse.

 

Die Schüler rennen ihr mittlerweile die Bude ein

 

„Sie rennen mir mittlerweile die Bude ein“, sagt die Seelsorgerin. Dann klopft es zum Beispiel an der Bürotür. „Frau Ahlers, wir schreiben gleich Mathe. Können Sie eine Kerze für uns anzünden?“ Feste Sprechstunden hat sie nicht. Entweder fragen Schüler in der großen Pause nach einem Gesprächstermin oder machen per Handy ein Treffen aus.

Auch Gottesdienste zählen zu den Projekten der Seelsorgerin. „Stunde eins“ heißt einer, zu dem sich die Jahrgänge abwechselnd jeden Montag treffen. Meistens bereiten Religions-, Musiklehrer und sie die Feiern vor. Dazu kommen die großen Schul- und Abschlussgottesdienste. Gerade steckt die Pastoralreferentin mit einem Kreis von Abiturienten in der Planung dafür.

 

Seelsorgerin sieht Diaspora auch als Vorteil

 

Gleichzeitig zuständig zu sein für fast Erwachsene und für Fünftklässler – ist das eigentlich ein schwieriger Spagat? Ahlers überlegt kurz. „Manchmal sind auch Fünftklässler schon fast erwachsen“, sagt sie, „und manchmal sind 19-Jährige noch ganz kleine Kinder.“

Und die Diaspora, macht die die Arbeit schwieriger? Während und nach ihrer Seelsorge-Ausbildung hat Ahlers im überwiegend katholischen Löningen gearbeitet. In Oldenburg ist nur etwa jeder siebte der rund 170.000 Einwohner katholisch. „Das hat auch Vorteile“, sagt die Seelsorgerin. „Die Schüler haben weniger Vorbehalte gegenüber Kirche, vertrauen mir vielleicht sogar deshalb, weil ich von der Kirche bin.“

 

Kerzen sind wichtig für Schulseelsorge

 

Vielleicht hilft ihr dabei auch ihr Konzept: „Ich bringe hier nicht Gott her. Ich gehe mit Kindern, Lehrern und Eltern gemeinsame Wege. Und ich schaue dabei, was gebraucht wird, wo ich helfen kann“

Zum Beispiel, wenn es um das Thema Tod und Trauer geht. 1.500 Schüler, Lehrer und Mitarbeiter zählen die beiden kirchlichen Schulen insgesamt. „Irgendjemand ist immer irgendwie von schwerer Krankheit oder einem Todesfall in der Familie betroffen.“ Manchmal organisiert die Seelsorgerin dann eine Feier mit Kerzen im Raum der Stille. „Das ist für Schüler ein ganz wichtiges Zeichen.“ Auch beim Gottesdienst am letzten Schultag der Abiturienten werden traditionell Kerzen verteilt. Die brennen während der Klausuren in den Klassenzimmern.

Was sie reizt? „Dass ich mitten im Leben bin, bei den Menschen, alles von ihnen mitbekomme. Man muss mit Menschen leben, um sie zu verstehen.“ Und auch, um „Trösterin“ zu werden.

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